Erfahrungswissen als Ressource: EX-IN-Genesungsbegleitung im Fokus

Wie kann das Erfahrungswissen von Menschen mit psychischen Krisen die psychiatrische Versorgung verändern? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Fachabends der Pinel gGmbH in Berlin-Schöneberg. Rund 100 Gäste diskutierten Chancen und Herausforderungen der EX-IN-Genesungsbegleitung – von Hoffnung und Empowerment bis hin zu Fragen der Implementierung in Kliniken und Trägern. Deutlich wurde: Peerarbeit wirkt stigmatisierenden Strukturen entgegen, stärkt Teams und eröffnet neue Perspektiven für eine inklusive psychosoziale Versorgung.

Zu einem komprimierten und spannenden Fachabend hat die Pinel gGmbH – Initiative für psychisch Kranke im ersten Halbjahr 2025 ins Pinellodrom in Berlin-Schöneberg eingeladen. Unter dem Titel „Durch Erfahrung gut – Chancen & Challenges der EX-IN-Genesungsbegleitung für Träger und Kliniken“ konnten sich ca. 100 Zuhörer*innen in einer zweistündigen Podiumsdiskussion über aktuelle Ansätze und Praxiserfahrungen informieren.

In Berlin wird das Weiterbildungsprogramm EX-IN von der Pinel gGmbH angeboten. In der Anmoderation erklärte Marco Saal, Fachreferent der Geschäftsführung, dass mittlerweile in Berlin der 28. EX-IN-Kurs stattfindet und es inzwischen in Berlin ca. 700 Absolvent*innen dieser Kurse gibt.

Auf dem Podium vertreten war ein hochkarätiger Gast: Jörg Utschakowski ist Psychiatriereferent des Landes Bremen, Ehrenvorstand bei EX-IN Deutschland e.V. und ein wichtiger Vorreiter der EX-IN-Bewegung in Deutschland.

Zur Geschichte der EX-IN-Weiterbildung gefragt, verwies er darauf, dass es sich um ein europäisches Projekt handelte, an dem unterschiedliche Länder beteiligt waren. Ein Curriculum für die Weiterbildung wurde 2007 mit dem gemeinsamen Verständnis entwickelt, dass es eine Art „kollektives Wissen von Psychiatrieerfahrung“ gibt, so Utschakowski.

Hoffnung und Perspektiven vermitteln

In Deutschland fanden die ersten EX-IN-Kurse 2008 in Berlin statt. In der Weiterbildung wird mit der Idee des „Wir-Wissens“ ein gemeinsames Erfahrungswissen generiert. Für die Arbeit als Genesungsbegleiter*in ist es wichtig, die eigene Perspektive zu erweitern und herauszufinden, welche Haltungen und Strukturen für Menschen in psychischen Krisen hilfreich sein können. Dieses wertvolle Wissen können Träger und Kliniken nutzen.

Bei der Arbeit von Genesungsbegleiter*innen steht das Vermitteln von Hoffnung und Perspektiven im Vordergrund. Podiumsgast Vladimir Bojic arbeitet als systemischer Therapeut und Genesungsbegleiter in einem multiprofessionellen Team im Bereich der ambulanten Krisenbegleitung und des Betreuten Einzelwohnens bei Pinel. Er stellt sich den Klient*innen nicht sofort als jemand vor, der selbst krisenerfahren ist, sondern setzt sein Erfahrungswissen dann ein, wenn es gut passt. Er betonte, dass es gut sei, als Genesungsbegleiter*in zu zweit in einem Team zu arbeiten.

Anke Frey ist Genesungsbegleiterin auf der akutpsychiatrischen Station des Theodor-Wenzel-Werks (TWW) und leitet mit der Psychologin Sandra Kieser ein Team von 13 Genesungsbegleiter*innen. Die Kliniken im TWW beschäftigen seit August 2021 Genesungsbegleiter*innen in der Psychiatrie – unter guten Bedingungen: Das Team hat eine eigene Leitung, einen eigenen Dienstplan, eigene Teamtage und Supervision. Zudem hat das TWW mit den Krankenkassen eine Refinanzierung der Peers als eigenständige Berufsgruppe verhandelt. Ein „Riesenerfolg“, so Anke Frey.

Konkret nach ihrer Arbeit auf der Station gefragt, erzählte Anke Frey, dass sie meist einen guten Zugang zu einigen Patient*innen bekommt, alltagsnahe Begleitungen und entlastende Gespräche anbietet.

Stigmatisierung entgegenwirken

Marion Locher, Geschäftsführerin der Träger gGmbH, stellte auf dem Podium den Ansatz ihres Trägers vor: Seit 2019 ist dort ein Peer-Team mit an Bord, das aus vier Peers besteht, von denen drei eine psychosoziale Ausbildung haben. Der Träger nutzt ihre Peer-Beratungskompetenz für Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen.

So entwickelt und realisiert das Peer-Team Fortbildungsangebote für und mit Träger-Mitarbeiter*innen, arbeitet an Nutzerbefragungen und anderen partizipativen Projekten mit und berät auch Klient*innen bei spezifischen Fragestellungen in der Assistenz.

Die Arbeit mit dem Peer-Team wirke Stigmatisierung entgegen, weil die Mitarbeiter*innen des Peer-Teams „offen mit ihren Krisen umgehen“, was ein Lerneffekt für die anderen Mitarbeiter*innen bedeute, so Locher.

Die vier Peer-Mitarbeiter*innen sind einmal im Monat in der Teamsitzung dabei und arbeiten ansonsten recht eigenständig. Laut Marion Locher erlaubt ihnen das „die Freiheit für den kritischen Blick“ – auch auf die Strukturen des Trägers.

Stellvertreter*innen für das „Licht am Ende des Tunnels“

Ging es im ersten Teil der Podiumsdiskussion um die Chancen der Genesungsbegleitung, beschäftigten sich die Gäste im zweiten Teil mit den Herausforderungen und u.a. mit der Frage, was eigentlich bei der Einführung in der Praxis beachtet werden muss.

Anke Frey verwies darauf, dass vor allem eine gute Vorbereitung wichtig ist, aber auch die Wertschätzung der Arbeit von Expert*innen aus Erfahrung. Zudem verfügt das TWW über eine eigene Stellenbeschreibung für Genesungsbegleiter*innen, in der deren Rolle und Aufgaben klar benannt sind.

Jörg Utschakowski, Autor des Buchs „Mit Peers arbeiten“, erklärte, wie wichtig es ist, dass Genesungsbegleiter*innen immer zu zweit arbeiten – in einem Team oder zumindest in der Organisation. Denn sie könnten nur dann Stellvertreter*innen für das „Licht am Ende des Tunnels“ sein, wenn sie die Chance hätten, ihre Peer-Perspektive immer wieder zu überdenken – auch mithilfe von Supervision.

An Recovery und Empowerment orientieren

Für die Implementierung von Genesungsbegleitung brauche es neben einer überzeugten Leitung Arbeit auf vielen Ebenen: So könnten der Einsatz von EX-IN-Praktikant*innen, die Einbeziehung von Peers in Fortbildungen sowie Dialog und Austausch Vorurteile abbauen und Haltungen verändern. Für eine „Kehrtwende in der Organisation“ oder einen „Change-Management-Prozess“ müsse sich die Organisation an Recovery und Empowerment orientieren.

Es gibt noch Potential für Veränderung, denn viele Träger arbeiten noch nicht mit Genesungsbegleiter*innen. Uwe Brohl-Zubert, Fachreferent Soziale Psychiatrie des Paritätischen Landesverband Berlin, sagte auf dem Podium, dass es auf fachlicher Ebene keine großen Hürden mehr gebe, denn der Wert von Expert*innen aus Erfahrung sei seit zehn Jahren anerkannt.

Im Hinblick auf die Diskussion um die aktuelle Entlohnung von Genesungsbegleiter*innen machte er jedoch deutlich, dass die EX-IN-Genesungsbegleitung noch kein anerkannter Beruf sei, weshalb die Bezahlung immer eine „Aushandlungssache“ bleibe. Er plädierte dafür, für die Träger auf Vertragsebene Anreize zu schaffen, damit die Arbeit mit Genesungsbegleiter*innen in den Leistungstypen keine „schöne Empfehlung“ bleibe.

Inklusion umsetzen

Anja Jaeckel, Koordinatorin der Berliner EX-IN-Weiterbildung, betonte schließlich auf dem Podium, dass es wichtig sei, dem Thema noch vorurteilsfreier und mit mehr Vertrauen in die wichtige Arbeit von Genesungsbegleiter*innen zu begegnen. Trotz vieler positiver Veränderungen im psychosozialen Hilfesystem gebe es unter dem Fachpersonal in den Gesundheitssystemen nach wie vor Vorbehalte und zu wenig Vertrauen in die Kompetenzen von Menschen, die weiterhin als stigmatisiert gelten. Es müsse ein breiteres Verständnis dafür entwickelt werden, dass „wir diese Menschen brauchen“ und auch hier Inklusion umsetzen sollten, weil sie Teil des Systems sind, welches es zu verbessern gelte.

Als Koordinatorin würde sie in Berlin gerne zukünftig auch EX-IN-Kurse auf Englisch anbieten, weil eine große Betroffenen-Zielgruppe gerade in der Metropole Berlin aufgrund von Sprachbarrieren bisher von dem Angebot der Weiterbildung ausgeschlossen ist.

„Durch die Klient*innen-Brille schauen“

Der Fachabend hat deutlich gemacht, dass unser Projekt „EX-IN – Mit Peers arbeiten“ viele der Hinweise der Podiumsgäste für eine gute Vorbereitung und eine Implementierung des Ansatzes EX-IN bereits beachtet und umgesetzt hat. Dennoch konnte das Projektteam wichtige Anregungen für die Praxis mitnehmen.

Cornelia Thießen, die seit Januar 2025 als Nachfolgerin von Thomas Thielking im Tandem mit Lena Grünberg im Projekt EX-IN arbeitet, betont: „Der spannende Fachabend zu den Chancen und Herausforderungen der EX-IN-Genesungsbegleitung hat mir noch einmal gezeigt: Wir als Betreuungsteam müssen davon wegkommen, besser wissen zu wollen, was für unsere Klient*innen gut ist. Ich wünsche mir von Genesungsbegleiter*innen im Team, mehr durch die „Klient*innen-Brille“ schauen zu können.“

Peer Power Forum am 17. Oktober

„Peerarbeit verändert Strukturen, Teams und Sichtweisen. Und sie stärkt alle Beteiligten.“ – So heißt es auch auf dem Flyer für eine Veranstaltung des Vereins exPEERienced – erfahren mit seelischen Krisen e.V. Im Rahmen der Woche der seelischen Gesundheit lädt der Verein zu einem „Peer Power Forum“ am 17.10.2025 von 10 bis 14 Uhr ins Pinellodrom in Berlin-Schöneberg ein. Das Forum richtet sich an Genesungsbegleiter*innen, aber auch gezielt an Arbeitgebende: „Denn Peerarbeit kann nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn Organisationen bereit sind, neue Wege zu gehen und Erfahrungswissen als Ressource anzuerkennen“, so der Verein.

Das Programm klingt vielversprechend – mit Beiträgen u.a. zu den Forschungsergebnissen des Projekts „ImpPeer-Psy5“, zur erfolgreichen Einführung von Peers in der Klinik und zu praktischen Erfahrungen aus der Trägerarbeit. Nicht zuletzt wird auch diese Veranstaltung viel Raum für Austausch und Vernetzung bieten. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite des Vereins: www.expeerienced.de

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