Systemsprenger: das ist die Wirkung, nicht die Erkrankung

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Kathmandu Nepal
Dienstag, Mai 6, 2025
Im Nachhinein betrachtet sind es oft die Kinder, bei denen schon im Kindergartenalter zu beobachten war, dass sie nicht mit Frust umgehen können, keine ausreichende Impulssteuerung haben oder sich nicht an Regeln halten können. Sie reagieren in bestimmten emotionalen Situationen körperlich, schlagen, beißen, treten andere Kinder. „Schlagen oder körperliche Auseinandersetzungen kommen auch bei anderen Kindern vor; die verstehen aber nach zwei, drei Mal, wie soziales Miteinander funktioniert“, erklärt die Ergotherapeutin Maren Bartenstein und fährt fort: „Kinder, die zu Systemsprengern werden könnten, haben oftmals schon als Baby und Kleinkind viele Enttäuschungen und Bindungsabbrüche erlebt, die Eltern-Kind-Beziehung ist kritisch oder ist sozusagen nicht existent und vieles mehr“. Mögliche Systemsprenger ändern ihr Verhalten nicht nach zwei oder drei Mal aggressiver Reaktion. Sie haben dieses Verhalten als ihre Überlebensstrategie für sich abgespeichert, um mit ihren Emotionen, mit Frustration, Anspannung und Impulsen umzugehen, weil sie es nicht anders erlernt haben. Es ist maßgeblich und für die weitere Entwicklung dieser Kinder wichtig, ihnen keine bewusste Absicht zu unterstellen, sondern zu erkennen, dass sie Hilfe benötigen.
Frühzeitig handeln: adäquate Hilfe von Ergotherapeut:innen erhalten
Beobachten Eltern, Angehörige, Freunde ein solches Verhalten wiederholt oder werden Kindergarten und Kita oder später die Schule hellhörig und verständigen daraufhin die Eltern, ist ein klärendes Gespräch mit dem Kinderarzt, der Kinderärztin oder Kinderpsychiater:innen ein vernünftiger Schritt. In berechtigten Fällen folgt beispielsweise eine Verordnung für Ergotherapie. Ergotherapeut:innen haben es bei ihrer Arbeit oftmals mit Kindern oder Jugendlichen zu tun, die soziale Interaktionsproblematiken zeigen oder schwache Leistungen aufweisen, die nicht dem IQ geschuldet sind, sondern einem Mangel an Strukturierung oder einem Mangel an Unterstützung durch das Elternhaus. Darüber hinaus zeichnen sich Ergotherapeut:innen dadurch aus, dass ihre Interventionen in solchen Fällen spielerisch verlaufen, was eine wichtige Voraussetzung ist, um Kinder für die Zusammenarbeit zu gewinnen und zu begeistern. Es gilt, die Kinder und Jugendlichen da, wo sie sich gerade in ihrer Entwicklung befinden, altersgerecht abzuholen. Und Vertrauen aufzubauen. Eine gesunde Vertrauensbasis ist im Übrigen bei allen Menschen, also auch bei größeren Kindern oder Jugendlichen, die Voraussetzung für eine funktionierende und zielgerichtete Therapie.
Professionelle ergotherapeutische Haltung: nicht nachtragend sein
Maren Bartenstein, die als Ergotherapeutin in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) arbeitet, beschreibt einen Fall, der die Richtigkeit der ergotherapeutischen Herangehensweise untermauert. Es geht um einen Jungen, der bereits mit beginnendem Teenageralter die Schule komplett verweigerte, in den ersten Stunden die Ergotherapeutin beleidigte und mit Stühlen warf. „Die erste Handlung: Grenzen klar und eindeutig aufzeigen“, betont Bartenstein. Die Beleidigungen lässt sie an sich abprallen, wählt Humor als einen therapeutischen Ansatz, verweist den Jugendlichen wegen des Stühlewerfens des Raums und der Stunde. Aber: sie begrüßt ihn bei den folgenden Terminen jedes Mal so freundlich wie beim ersten Mal – es ist alles auf „Null“ zurückgestellt. „Gerade Kinder und Jugendliche, die schon etliche Beziehungsabbrüche hinter sich haben und so weit abgedriftet sind, benötigen einen „slow Start“ in Beziehungs- und Bindungsaufbau“, verdeutlicht die Ergotherapeutin und erklärt, es sei eine für Therapeut:innen unabdingbare Haltung, diese Kinder und Jugendliche innerhalb der gesetzten Grenzen auszuhalten und nicht etwa beleidigt zu sein. Sogenannte Systemsprenger haben eine Tiefengeschichte, Erfahrungen und Erlebnisse, aufgrund derer sie sich so verhalten. Sie sagt: „Als ehrliche und authentische erwachsene Person zeige ich klar die Grenzen; Konflikte werden geklärt. Danach gibt es einen Neustart und nicht etwa ein Nachtragen, nichts wird mit sich herumgeschleppt“. Ein solches Verhalten ist, nebenbei bemerkt, generell für Eltern und auch für das Umfeld von Kindern und Jugendlichen durchaus sinnvoll.
Systemsprenger: Kinder und Jugendliche, die nicht mehr ins bestehende System passen
Ergotherapeut:innen kommen häufig mit Ansätzen wie handwerklichen oder künstlerischen Angeboten daher, die harmlos und banal erscheinen, aber tatsächlich eine große Wirkung haben. Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche ihre Kompetenzen ausspielen, sich etwas zutrauen, etwas ausprobieren und sich selbstwirksam erleben. So auch im Fall des Jugendlichen, der die Schule verweigerte. „Nach den anfänglichen Rausschmissen ließ sich der Junge beim dritten oder vierten Treffen darauf ein, die Blumenkübel vor der Praxis zu bepflanzen und zwar mit einer Pflanze, die er sich aussuchen konnte“, beschreibt die Ergotherapeutin, wie sie das Interesse und die Mitarbeit des bereits als Systemsprenger abgestempelten Jugendlichen wecken konnte. Beim Pflanzen, Gießen und Kümmern gab er mit der Zeit so ganz nebenher mehr und mehr von sich preis. Das Eis war gebrochen, ein vorsichtiger Zugang zu den Schwierigkeiten des jugendlichen Systemsprengers möglich. Wie konnte das gelingen? „Der Fokus lag auf einer Aktivität, bei der sich der Junge selbstwirksam erleben konnte. Er hat etwas erschaffen und das auch jedem, der auf der Straße vorbeikam, erzählt“, veranschaulicht die Ergotherapeutin diesen Wirkmechanismus. Die Möglichkeit, mit anderen positiv ins Gespräch zu kommen, ein „danke“ für die eigene Arbeit zu erhalten, stolz auf die eigene Leistung zu sein – das alles baut Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit auf. Ganz maßgeblich ist dabei, dass die Aktivität in jedem Fall erfolgreich verläuft und das obliegt der Verantwortung des oder der Ergotherapeut:in.
Bei Ergotherapeut:innen lernen: zwischenmenschliche Beziehungen gestalten
Mit Rückschlägen oder Misserfolgen umzugehen, lernen Systemsprenger erst in einem sehr viel späteren Stadium der Intervention; auch dann ist wieder sehr behutsames und besonnenes Vorgehen seitens der Ergotherapeut:innen angesagt. Zunächst ist das Ziel, eine vernünftige Ausgangsbasis von Vertrauen und Selbstwert zu schaffen. Ergotherapeut:innen legen ein besonders achtsames Verhalten an den Tag, wenn sie mit derart belasteten Kindern wie Systemsprengern arbeiten: Wenn Situationen zu kippen drohen, lassen sie diese Kinder oder Jugendlichen beispielsweise eine Bewegungseinheit oder eine Traumreise machen, etwas spielen oder meditieren. Von solchen Strategien profitieren die Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft – der Lerneffekt ist klar. Im Lauf der Zeit stabilisieren sich die meisten Kinder und Jugendlichen; sie öffnen sich. Erst dann können Ergotherapeut:innen vorsichtig anfangen, die Schwierigkeiten zu thematisieren. Dabei gilt immer zu bedenken, dass ein Kernproblem bei Systemsprengern ist, dass sie kaum eine gesunde Bindung erlebt haben. Stattdessen immer wieder Bindungsabbrüche, weil diejenigen, die nicht mit ihrem Verhalten zurechtkommen, diese Kinder aus Überforderung oder Hilflosigkeit ablehnen, abweisen oder sogar verwahrlosen lassen oder – handelt es sich um (Pflege-)Eltern oder Therapeut:innen – sie zurückschicken und den Kontakt abbrechen.
Es gar nicht so weit kommen lassen: Kinder und Jugendliche schützen helfen
Ein regelrechter Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Am besten in einem frühen Stadium, wenn noch nicht die Rede von Systemsprengern, sondern von Verhaltensauffälligkeiten ist. Und bevor die Schule nicht mehr helfen kann, das Jugendamt ebenso wie das Gesundheitssystem von diesen hoch therapiebedürftigen Kindern und Jugendlichen überfordert werden. Zu einem frühen Zeitpunkt spielt vor allem das Umfeld eine Rolle. Wer mitbekommt, dass im Freundes- oder Bekanntenkreis, in der Verwandtschaft, Nachbarschaft wo auch immer eine Problematik besteht, die zur Kindswohlgefährdung werden könnte, hat eine Verantwortung. Und zwar an erster Stelle gegenüber dem Kind. „Es gibt immer die Möglichkeit, überforderten Eltern Unterstützung – auch bei der Suche nach professioneller Hilfe von außen – anzubieten“, bittet die Ergotherapeutin jede und jeden Einzelnen und macht außerdem klar: „Wird das Angebot ausgeschlagen, muss Plan B her, und der heißt: das Jugendamt informieren“. Hilfe für Eltern gibt es bei Erziehungs- und Familienberatungsstellen, kirchlichen oder caritativen Einrichtungen, beim Jugendamt und bei medizinischen Versorgungszentrenten oder sozialpädiatrischen Zentren.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche. Zum Podcast gerne hier entlang: https://dve-podcast.podigee.io/
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