Sehende Roboter und analytische Cloud feilen an der Qualitätskarosserie

Kaum etwas ärgert einen Autokäufer so sehr wie der frisch erworbene Neuwagen, der kurz nach der Schlüsselübergabe bereits die ersten Mängel offenbart, die man oder frau bei der ersten Probefahrt gar nicht so recht gesehen hat. Wenn zum Beispiel dicke Spalten zwischen Tür und B-Säule klaffen, die eher an den Grand Canyon als an Wertigkeit "Made in Germany" denken lassen. Deshalb investieren deutsche Automobilhersteller viel Zeit, Technik und Mühe in die Überwachung dieser Spaltmaße schon in der Produktion. Bei einem viertägigen Denkund Entwicklungsmarathon in den Universellen Werken Dresden haben nun 25 Programmierer, Elektronikspezialisten und andere Tüftler neue Lösungen gefunden, um die bei diesen Qualitätskontrollen eingesetzten Methoden und generierten Datenströme nachhaltiger, effizienter und auch branchenübergreifend zu nutzen. Organisator dieses "Thin[gk]athons" war der Smart Systems Hub Dresden. Die konkrete Herausforderung samt Preisgeldern hatte diesmal die ZEISS Digital Innovation (ZDI) ausgelobt.

Den mit 1000 Euro dotierten ersten Platz hat sich am Donnerstag das Team "SOBA" gesichert. Dahinter stehen fünf wissenschaftliche Mitarbeiter der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Dresden, die auch im Berufsalltag zusammenarbeiten. Innerhalb von vier Tagen habe SOBA eine technisch sehr durchdachte und detaillierte Lösung geschaffen, schätzt die Jury ein. Das Team habe besonders auch das Thema Security, also Datensicherheit betrachtet, würdigt Juror Sven Jänicke. Die SOBA-Lösung stelle einen "ZEISS Marketplace" in Aussicht und passe insofern perfekt im Sinne des Plattformgedankens für den Challenge-Geber ZEISS.

Zweitplatzierter wurde das Team "DIPRO" und erhielt ein Preisgeld von 600 Euro. Den mit 400 Euro dotierten dritten Preis bekam das Team "evniko".

Automatische Messsysteme überwachen Spaltmaße im Karosseriebau

Die "Challenge" für den nunmehr 6. Thin[gk]athon kam aus dem Hause ZEISS. Der Hintergrund: Wer irgendwo in der Welt ein deutsches Automobil kauft, erwartet eine schon äußerlich sichtbare hohe Qualität. Dazu gehört beispielsweise der Anspruch, dass die Spalte zwischen Türen, B-Säulen und anderen Karosserie-Teilen nur wenige Millimeter dünn sind – und das bis auf den Zehntelmillimeter genau. Um dieses Niveau zu sichern, liefern Unternehmen wie ZEISS mit Robotern und Kameras ausgerüstete Qualitätsüberwachungssysteme an die großen Automobilfabriken. Diese automatisierten Stationen vergleichen die digital erfassten Karosseriespalte mit den Vorgaben und zeigen unzulässige Abweichungen an. Ähnliche Systeme verkauft ZEISS beispielsweise auch an Chipfabriken.

Die Idee ist nun, diese Konzepte zu komplexen "Industrie 4.0"-Lösungen weiterzuentwickeln und auf weitere Branchen zu übertragen. Dazu gilt es allerdings, die von solchen Systemen generierten Sensordaten sowie Informationen über den Anlagenstatus in einheitliche Formate zu transformieren, sie über sogenannte IoT-Gateways und OPC-UA-Schnittstellen an Rechnerwolken ("Clouds") der Amazon-Tochter AWS zu übertragen, damit sie dort analysiert werden können. Im Ergebnis sollen solche Lösungen zu erheblichen Effizienzschüben in den Fabriken führen.

"Hier kann jeder Ideen einbringen und neues Wissen mitnehmen"

Statt dafür ein klassisches Entwicklungsprojekt im eigenen Hause zu starten, hat sich ZEISS für einen kollaborativen, externen Ansatz entschieden: "Der Smart Systems Hub bietet mit seinen Formaten wie dem Thin[gk]athon ein hervorragendes Instrument, um digitale Fragestellungen mit dem berühmten Blick über den Tellerrand zu diskutieren", betont Alfred Mönch, Geschäftsführer der ZEISS Digital Innovation (ZDI). "Durch die Vernetzung von Wirtschaft, Forschung und Studierenden ergibt sich ein perfekter Mix von Knowhow auf unterschiedlichsten Gebieten und die Chance, mit Hilfe der Gruppenintelligenz der Community innovative Lösungsansätze zu entwickeln. Digitalisierung ist keine One-Man-Show. Wir brauchen derartige kollaborative Ansätze wie das Thin[gk]athon-Format. Hier kann jeder Ideen einbringen und neues Wissen und Impulse mitnehmen. Davon profitiert die gesamte Software Community inklusive unserer involvierten Mitarbeiter. Das ist für uns als Challenge Owner eine zusätzliche Motivation."

Auch die "Thin[gk]athon"-Teilnehmer profitieren von diesen Herausforderungen und kollaborativen Ansätzen – über die ausgelobten Preisgelder hinaus: "Wir wollen hier zeigen, was wir gemeinsam innerhalb weniger Tage schaffen können", meint beispielsweise Maja Pfaff, die normalerweise im Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) in Chemnitz eine Forschungsgruppe für digitale Lösungen in der Produktion leitet. Die 27-Jährige hat ihr ganzes Team für die Herausforderung in Dresden begeistern können. "Bei uns hatten alle Lust auf das Thema", erzählt Carl Willy Mehling, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der IWUGruppe von Maja Pfaff tätig ist. "Für den Thin[gk]athon legen wir die wissenschaftliche Brille einmal ab und schauen, ob und wie unsere Konzepte in der Praxis funktionieren – ein Realitäts- Check gewissermaßen."

Auch Felix und Eric Brandt knobeln mit an der ZEISS-Challenge. Sie agieren gewissermaßen als "Digital Twins", denn die Zwillinge forschen beide eigentlich an der HTW Dresden an "Cyberphysikalischen Systemen" (CPS). "Wir sehen das hier vor allem als industrienahe Weiterbildung", sagt Eric Brandt. "Hier wird zum Beispiel eine Anbindung an die AWS-Cloud gefordert und so etwas haben wir bisher noch nicht gemacht." Außerdem mache solch ein Entwicklungsmarathon im Team auch richtig Spaß, ergänzt sein Bruder Felix.

Und dieser Spaß, gepaart mit Phasen hoher Konzentration, ist allen Teams beim Thin[gk]athon anzumerken: Hier tippt einer ein paar neue Quellcode-Zeilen in ein Steuerprogramm, da malt eine Ingenieurin mit ernster Miene und einem Filzstift in der Hand eine Algorithmus-Kette auf eine Papiertafel. Daneben brodelt ein Süppchen vor sich hin, während ein paar Schnittchen auf hungrige Denker warten. Sieben Fachberater gehen von Tisch zu Tisch und helfen, wenn die Arbeit ins Stocken gerät. Gemurmel von Menschen und das Summen von Gerätelüftern erfüllt den Raum, da und dort blinkt eine LED vor sich hin – die Atmosphäre eben, die Wissenschaftler, Nerds und viele andere schöpferische Denker eben lieben.

"Hier gelangen kreative Menschen, von denen sich die meisten zuvor noch gar nicht kannten, gemeinsam innerhalb kürzester Zeit zu faszinierenden neuen Lösungen", betont Hub- Geschäftsführer Michael Kaiser. "Unsere Thin[gk]athons haben sich mittlerweile als beliebtes Innovations-Format in der sächsischen Technologiewirtschaft und darüber hinaus etabliert."

Auch die Fachjury zeigte sich angetan. "Das ist ein absolut grandioses Format, um kreative Leute aus unterschiedlichsten Unternehmen und Industrien zusammenzubringen und gemeinsam die coolsten Ideen ausprobieren zu lassen", schätzt Jury-Mitglied Michael Jacob, Geschäftsführer von AIS Kontron ein. "Ich kann mir kaum ein besseres Format dafür vorstellen. So viel Engagement und Drive von Entwicklern und Entwicklerinnen!"

"In kurzer Zeit haben die fünf Teams beeindruckende Lösungsideen entwickelt und umgesetzt", meint Jury-Mitglied Prof. Dirk Reichelt von der HTW Dresden. "Dies zeigt wieder einmal sehr anschaulich, welche Kompetenzen im Bereich Industrial IoT wir in Sachsen haben und wie man die Potenziale von Co-Creation-Ansätzen nutzen kann, um mit einer offenen Innovationskultur gemeinsam aktuelle Fragestellungen anzugehen und Neues zu schaffen."

"Enorme Kompetenz, perfekte Teamarbeit und höchste Motivation haben in diesem Format gezeigt, wie schnell innovative und kundenorientierte Lösungen entstehen können", ist Juror Prof. Uwe Wieland von Volkswagen Sachsen überzeugt. "Ergänzend dazu hat der Thin[gk]athon ein ganz neues Potenzial für die Weiterbildung aufgezeigt. In kürzester Zeit konnten die Teilnehmer voneinander komplett neue Technologien lernen und umsetzen. Ich fand es fantastisch."

Der Veranstalter: über den Smart Systems Hub – Enabling IoT

Im Mikroelektronik-Herz Europas vernetzt der Smart Systems Hub über 450 Partner, die für die umfassende sächsische Kompetenz in den Schlüsselbereichen Hardware, Software und Konnektivität stehen. Mit Thin[gk]athons, Digital Product Factories und anderen kollaborativen Formaten organisiert der Hub vernetzte Entwicklungsprojekte für Unternehmen jeder Größe. Der Dresdner Hub ist auf praktische und innovative Lösungen für das Industrielle Internet der Dinge (IIoT) fokussiert und ist Teil der bundesweiten Innovation-Hub-Initiative des deutschen Digitalwirtschaftsverbandes "Bitkom".

Der Herausforderer: über die ZEISS Digital Innovation

Die ZDI ist aus der ehemaligen Saxonia Systems hervorgegangen, die 2020 von ZEISS übernommen und erfolgreich in den Konzern integriert wurde. Das Unternehmen ist mit rund 450 Mitarbeitern an den Standorten Dresden, München, Berlin, Leipzig, Görlitz sowie Miskolc und Budapest in Ungarn vertreten. Das Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2020/21 einen Umsatz von über 50 Mio. Euro und plant in den kommenden Jahren mit einem kontinuierlichen Wachstum auf über 700 Mitarbeiter.

Die ZDI unterstützt als Teil der ZEISS Gruppe ihre Kunden bei der Softwareentwicklung entlang digitaler Ökosysteme und Plattformen. Das Unternehmen deckt vom Anforderungsmanagement über die Realisierung bis zum Betrieb und der kontinuierlichen Weiterentwicklung den gesamten Softwarelebenszyklus ab. Die Lösungen der ZDI retten heute Leben, ermöglichen Fertigungsinnovationen und vernetzten Fertigungskapazitäten weltweit.

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