Mit Kufenschlitten zu fantastischen Ufern, Umzug nach MV und ein Palazzo in Mecklenburg – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Ja, manchmal gibt es auch bei Schriftstellern Überraschungen und sie zeigen sich von einer bisher gänzlich unbekannten Seite. Solches gilt auch für das zweite der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 21.01. 22 – Freitag, 28.01. 22) zu haben sind. In „Heute warst du eine Schneeflocke auf meiner Hand“ präsentiert der den meisten Leserinnen und Lesern wohl vor allem als Autor von Kriminalromanen und SF-Geschichten bekannte Klaus Möckel eine Auswahl von Liebes- und anderen Gedichten aus einem langen Schriftstellerleben. Und es lohnt sich, diese Einladung anzunehmen.

Wer will schon nach Meck-Pomm?“ lautet der Titel des autobiografischen Romans von Ulrich Hinse. Und wie war es mit ihm selbst? Wollte er?

Auch Bau- und Schlossgeschichten, aber vor allem Menschengeschichten erzählt Brigitte Birnbaum in „Das Schloss an der Nebel“.

Episoden der Erinnerung legt Uwe Berger mit „Pfade hinaus“ vor.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute kommt ein wahrer Jahrhundertzeuge zur Wort, der viele Storys erlebt hatte und meisterhaft erzählen konnte.

Erstmals im Jahre 2000 erschien in der edition reiher im Karl Dietz Verlag Berlin „Gelebtes Leben. Ein Geschichten-Kaleidoskop“ von Walter Kaufmann: Ein buntes Kaleidoskop von Geschichten erwartet den Leser dieses Buches. Unerwartete Geschichten, überraschende Geschichten, aufschlussreiche Geschichten – bemerkenswerte Begebenheiten, die es wert waren, aufgeschrieben zu werden, um in Erinnerung zu bleiben. Sie sind persönlich und politisch, meistens beides und immer Menschengeschichten. Und meist schwingt die eigene Biografie des jüdischen Jungen mit, dessen Adoptiveltern in Auschwitz umgebracht wurden.

Ihre Schauplätze sind so verschieden wie die Geschehnisse, die sich darin ereignen. Sie spielen in Australien und in Israel ebenso wie in Prerow auf dem Darß, in Duisburg, in London und in Chicago, auf den Fidschi-Inseln und auch beispielsweise in Mecklenburg, 1998: „Ich dachte daran, wie erfolgsgewiss er in die Wende gegangen war, nachdem ihn die geschrumpfte und immer mehr schrumpfende Seereederei des Ostens hatte entlassen müssen – kein Problem für ihn: Blühende Landschaften, auch Mecklenburg würde aufblühen und Gaststätten gefragt sein. „Die Schnauze voll, er hatte die Schnauze voll“, hörte ich sie sagen. Hier einige dieser Geschichten:

Die Stimme Jack Londons

Melbourne 1950

So viel wusste ich natürlich – zu tun gibt’s immer für den Decksmann eines Schleppers, auch im Hafen: Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben. Und wer poliert die Messingbeschläge, scheuert das Deck, macht klar Schiff im Ruderhaus und reibt die Scheiben blank? Mochte Kapitän Maloy auch Pfeife schmauchend den nächsten Einsatz abwarten und Spinks, der Maschinist, sich auf Deck im Schatten der Aufbauten ausstrecken, mochten sich auch die beiden Leichtmatrosen Pat und Jim hin und wieder an Land verkrümeln, nichts davon galt für den Decksmann – und der war ich.

Also suchte ich mir Arbeit und bald glänzte es an Bord, dass ich mir einbildete, auch ich hätte mir inzwischen ein paar Vorrechte verdient – nicht gerade lange Rauchpausen oder ein Schläfchen in der Kammer oder gar beim Chinesen vor den Hafentoren ein Süppchen schlürfen, aber doch ab und zu in einem Buch blättern.

Immer hatte ich irgendeinen Roman dabei: London, Melville, Crane, Bret Harte – bewunderte Autoren jenes Jahres, aber dass ich durch Martin Eden meinen Posten auf dem Schlepper verlor, ausgerechnet wegen meiner Anteilnahme an einem tagsüber hart schuftenden und nachts zäh an seinen Büchern schreibenden Helden, traf mich hart.

Total in die Handlung vertieft, die Stimme Jack Londons im Ohr, überhörte ich die Stimme des Schlepperkapitäns, der von der Brücke zu mir herunterrief: „Kommen Sie mal hier rauf, Decksmann!“

Und eben dort, wo ich sechs Wochen zuvor angemustert hatte, sprach er mir die fristlose Entlassung aus: Sacked on the spot!

„An Bord“, ließ er mich wissen, „liegt immer was an“ – und dann zählte er all die Pflichten auf, womit ich mich längst abgeplagt hatte: „Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben – und den gottverdammten Rest!“

Jack London, dachte ich aufgebracht, was zum Teufel hast du mir da eingebrockt!

Get back to Russia, you!

Kleinmachnow 1998

Und dann, das war am vergangenen Sonntag, beschrieb mir Rudi Güttner vom Verband der Antifaschisten das Schicksal von drei Söhnen deutscher Kommunisten, einer davon der Sohn des Spanienkämpfers Hans Beimler, die Mitte der dreißiger Jahre in die Sowjetunion geflüchtet und bald darauf nach Sibirien verbannt worden waren – beschuldigt, der Hitlerjugend angehört und versucht zu haben, deren Gesinnung auch in Moskau zu verbreiten. Er sprach nüchtern, unaufgeregt, alles lag mehr als ein halbes Jahrhundert zurück – durch Verleumdungen, ein Zeichen jener Zeit, war die Odyssee der Deutschen ausgelöst gewesen, doch hatte sie nicht, wie bei ungezählten anderen Opfern stalinistischer Willkür, mit dem Genickschuss geendet. Die drei überlebten die Schreckensherrschaft Stalins …

Mir aber war wieder jenes heisere Gebrüll im Ohr – get back to Russia, you! Ich sah mich, sechsundzwanzigjährig und damals Hafenarbeiter in Melbourne, am Pier stehen, neben mir auf den Bohlen ein Stapel Zeitschriften, die aufwendig im Vierfarbendruck herausgegebene Monatszeitschrift SOVJET UNION, und es prallte an mir ab, dass mich ein paar mir unbekannte Kerle nach Russland verbannten: Klassenfeinde, Handlanger der Bosse – was sonst! Ich blieb auf dem Posten – bellende Hunde beißen nicht, und hatte ich bis zum Ende der jeweiligen Mittagspause ein halbes Dutzend Zeitschriften verkauft, war ich mit mir und der Welt im reinen. Die da gegen mich antraten, wurden ja nicht tätlich, und ihr Gebrüll war weit eher zu verkraften als das, was sie mir immer mal wieder zuraunten: Stalin kills more Communists than Hitler – get that into your skull, you idiot!

Ich roch sie förmlich, wenn sie mir hautnah die Hiobsbotschaft von den unter Stalin ermordeten Kommunisten ins Ohr bliesen. Alles sträubte sich in mir, auch nur ein Wort davon zu glauben. Nur, sie auch wegen ihrer Gegnerschaft zu Stalin als Handlanger der Bosse abzustempeln, verfing nicht – so dringlich sie mich nach Russland verbannten, immerhin warnten sie mich auch gegen das, was mir, wie sie meinten, dort blühen würde: Stalin bringt mehr Kommunisten um als Hitler … Begreif das endlich, du Holzkopf.

In meiner Verunsicherung besprach ich mich mit Gewerkschaftern, die zu Kongressen in die Sowjetunion geschickt worden waren.

„Mit Verachtung strafen“, rieten sie mir samt und sonders. „Klassenfeinde allesamt und verdammte Lügner.“

Das genügte mir. Damit gab ich mich zufrieden – zu lange! Bis hin zu dem Jahr der Chruschtschowschen Enthüllungen in Moskau.

Die Ohrfeige

Duisburg 1992

Da hatte ich längst den Bonner Bescheid, dass mir nicht zugestanden werden würde, was im Osten seit der Wende den Westdeutschen tausend und abertausendfach zugestanden worden war: Rückgabe vor Entschädigung. Weder zurückbekommen würde ich das meinen Eltern in brauner Zeit geraubte Haus, noch dafür entschädigt werden – zu spät! Was unter Hitler passierte, war verjährt, verjährt die Pogrome, die Enteignung, die Verschleppung der Eltern in die Hölle von Auschwitz. Wer glaubte, nach vierzig ostdeutschen Jahren noch Ansprüche stellen zu können, war auf dem Holzweg und erfuhr das mit Brief und Siegel …

Hätte mich nicht im zweiundneunziger Jahr der Weg noch einmal in die einstige Heimatstadt geführt, sogar in die Prinz-Albrecht-Straße, der Bescheid wäre für mich abgetan geblieben. Jetzt aber, unerwartet und ohne mein Zutun wieder vor dem Elternhaus, überkam mich wie nach meiner Rückkehr aus der Ferne dieser unbändige Zorn.

Ich sah Herrn St., den jetzigen Hausbesitzer – Hausbesatzer – im Mercedes vorfahren, die gewundene Steintreppe hochgehen, sah ihn durch die Haustür nach drinnen verschwinden, und vor meinem inneren Auge nahm ich wahr, wie er sich in Vaters Arbeitszimmer am Schreibtisch unter dem Ölbild von den zwei Frauen im Regen niederließ und in Akten blätterte. Das Licht im Arbeitszimmer erlosch, und jetzt glaubte ich ihn in der Diele, wo er sich, wie einst mein Vater, vor dem Abendbrot die Hände wusch. Ich sah ihn im Esszimmer am gedeckten Tisch, vom Hausmädchen bedient, umsorgt auch von der Ehefrau – und ein nagendes Unbehagen biss sich in meinen Zorn. Wie ein Voyeur kam ich mir vor, hier auf der Straße vor den erleuchteten Fenstern meines Elternhauses. Ich wandte mich ab. Nicht zu ertragen war mir plötzlich die Vorstellung von dem Paar im Biedermeierzimmer oder gar im Schlafzimmer der Eltern.

Schon war ich im Aufbruch, da flammte über dem Eingang im Nebenhaus ein Licht auf, einen Spalt weit wurde die Haustür geöffnet – und ich wusste: Das würde einer aus der Familie des Bankdirektors sein, der, als ich acht war, mit seinem Anruf beim Vater – Ihr Sohn stiert uns von der Gartenmauer ins Fenster für Aufruhr im Elternhaus gesorgt hatte.

Nie zuvor hatte der Vater mich geschlagen, und auch nach jener Ohrfeige, vor der ich mich geduckt hatte, sodass er sich an der Gartenmauer zwei Finger brach, legte er nie wieder Hand an mich. Vaters Finger blieben lange in Schienen und ich in ein Abseits verbannt, das mich zutiefst kränkte … Dem Vater verzieh ich bald, nie aber dem Bankdirektor. Und wie ein Menetekel schien es mir, dass just in diesem Augenblick, wie von sehr weit her, im Elternhaus das Telefon schrillte …“ Und damit zu den anderen vier Sonderangeboten dieses Newsletters.

Im Januar veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion „Heute warst du eine Schneeflocke auf meiner Hand. Liebes- und andere Gedichte“ von Klaus Möckel: Nicht ohne Selbstironie präsentiert hier Klaus Möckel, dessen vielfältiges Prosawerk in dem Autorenbuch „Gelegenheiten, Verwirrung zu stiften“ im Querschnitt vorgestellt wurde, seine Gedichte aus mehreren Jahrzehnten. Es sind Verse über die Liebe, einprägsam, zu Herzen gehend, kraftvoll im Bild, heiter. Sie handeln auch von einer Vergangenheit, die nicht aus dem Gedächtnis zu löschen ist, von Göttern der Zukunft und pointiert vorgetragenen kleinen Wahrheiten in prickelndem Gewand. Der Autor, der durch Kriminalromane, Berichte wie „Hoffnung für Dan“ (über seinen behinderten Sohn) oder „Die Gespielinnen des Königs“ einem großen Publikum bekannt wurde, gibt damit poetisch Einblick in einen weiteren Teil seines gehaltvollen Schaffens. Hier einige Eindrücke davon:

Reise mit dir

Die Städte, die wir durchwanderten, haben uns reicher gemacht.
Auch die Wälder und Wiesen. Staub störte uns nicht.
Aus Seen, an denen wir abends rasteten,
schöpften wir mit vollen Händen flimmernden Mond.
Da waren die Berge im Blau. Von Türmen blickten wir herab,
von wolkenüberwucherten Felsen.
Im Netz unserer Blicke dehnten sich die Felder,
streckte sich gefangen das Land.
Wir liefen hinter den Straßen, den Flüssen her.
Mit Kufenschiffen gelangten wir zu fantastischen Ufern.
Rubine brachen wir morgens aus den rötlichen Kronen steiler Gebirge.
Wir sahn den Wind ungebunden im Gras der Ebenen weiden.
Ach die Sonne, stechend, hoch oben über dem Meer.
Brückenschlag des Regenbogens, wenn die Brandung vor uns stieg.
Wir, zwischen Land und See. Möwen schwirrten ins Licht.
Fern zerbrach der Horizont an schäumenden Wellenbergen.
Des Sommers Atem schlug uns satt und heiß entgegen,
des schwülen Tages schwerer Duft.
Mitunter verweilten wir, mitunter trieben wir die Züge zur Eile an.
Die Schienen, erboste Lakaien, wanderten knirschend unter uns fort.
Reise mit dir. Die Fernen tauchten strahlend in uns ein,
die Wasserfälle, Dome, die Fabriken.
Staub störte uns nicht. Wir schüttelten ihn abends von den Schuh’n.
Die Städte, die wir durchwanderten, haben uns reicher gemacht.

1967

Verwandlung

Heute warst du eine Schneeflocke auf meiner Hand.
Fern glaubte ich dich, hinter Bergen versteckt,
hinter der Dornenhecke des Windes. Doch du wehtest mir zu
aus dem Mantel der Wolken.
Heute warst du ein Lichtstreif auf meinem Weg.
Schlummernd glaubte ich dich, in Träume versunken,
in die schmiegsame Hülle der Nacht. Doch du blicktest mich an
aus dem Gürtel der Sonne.
Heute warst du ein Grashalm, ein Sandkorn, ein Buch.
Allein glaubte ich mich, einsam wie vorm Fenster der Regen.
Doch wohin ich auch ging, du kamst auf mich zu
In stets neuer Gestalt.

1964“

Erstmals 2002 erschien im Scheunen-Verlag Kückenshagen der Autobiografische Roman von Ulrich HinseWer will schon nach Meck-Pomm?“: Zuerst war es der Titel, der neugierig machte. Dann war es das Bild. Ein Elefant auf dem Weg nach Mecklenburg-Vorpommern? Ein Tierbuch? Hier hat ein Polizeibeamter seine privaten und dienstlichen Erlebnisse aus den Jahren nach der Wende zu Papier gebracht. Zugegebenermaßen ein Wessi. Wer aber nun geglaubt hat, hier rechnet ein frustrierter Wessi mit den Ossis ab, liegt total falsch.

Sehr offen beschreibt der Autor, von 1991 bis 2004 Leiter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes in Meck-Pomm, seine Beweggründe, in den Nordosten der Republik überzusiedeln. Das Buch lebt von dem Wechsel zwischen dienstlichen Erfahrungen einerseits und privaten Erlebnissen andererseits, die mit dem Umzug aus dem Rheinland in ein kleines mecklenburgisches Dorf bei Schwerin verbunden waren. In emotionaler Nähe zu den erlebten Ereignissen berichtet Hinse von den Schwierigkeiten, Befremdlichkeiten, aber auch von lustigen Begebenheiten, die sich in den mehr als zehn Jahren seit der Wende ergeben hatten. Überraschend freimütig nennt er Kollegen beim Namen, schildert er dienstliche und private Ereignisse. So setzt er sich durchaus kritisch mit den Ereignissen von Rostock-Lichtenhagen und Bad Kleinen auseinander.

Die nachdenklichen Geschichten erlauben gelegentlich mit spürbarem Zynismus und Sarkasmus einen Blick hinter die Kulissen der Polizeiarbeit. Wobei sich durch die Erzählungen die Zahl seiner Freunde vermutlich verringert haben dürfte.

Die heiteren Episoden beschreiben mit zutiefst menschlicher Sicht die positiven und negativen Erfahrungen, die gesammelt wurden, nachdem der Autor von Deutschland nach Deutschland gezogen war.

Am Schluss kommt Hinse zu dem Ergebnis, und hier erschließt sich, warum der Titel einen Elefanten zeigt, dass sowohl ein dickes Fell als auch ein hohes Maß an Sensibilität erforderlich waren, um nicht zu resignieren oder zum Fremden in einem Umfeld zu werden, das letztlich ihn und das er angenommen hat.

Das Buch ist nicht nur für Polizeibeamte aus Mecklenburg-Vorpommern interessant. Es dürfte sich manch einer wiederfinden oder auch in seinen Urteilen oder Vorurteilen bestätigt sehen. Aber das Buch ist weder ein Wendereport noch ein Polizeireport. Es sind ganz einfach die Geschichten des täglichen Lebens, die jeder von uns erlebt, aber keiner aufschreibt. Lesen wir, wie der Autor eine erste, nun nach der Maueröffnung unproblematische Reise „nach drüben“ erlebt hat – zumindest in einer Beziehung schmackhaft und verdammt preiswert:

THÜRINGEN

Im Oktober 1990 fand mit Freunden und Kollegen bei Würzburg eine Weinprobe statt. Die gelöste weinselige Stimmung ließ bei uns spontan den Plan aufkommen, nicht wie sonst über Würzburg, Frankfurt und Mainz, sondern über Schweinfurt, Meiningen und Eisenach nach Bonn zurückzufahren. Immer schön in Grenznähe, man konnte ja nicht wissen.

Je näher die ehemalige Demarkationslinie, die Staatsgrenze West der früheren DDR, der „eiserne Vorhang“ kam, desto größer wurde die gespannte Erwartung.

Uns fiel auf, dass plötzlich in jedem Ort im Westen Gebrauchtwagenhändler wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Fahrzeuge, die noch vor wenigen Monaten ihr Ende auf dem Schrottplatz erwarteten, wurden zu indiskutablen Preisen angeboten und als „Schnäppchen“ offeriert.

Leichtes Unbehagen machte sich bei meiner Frau und mir breit. Eine derart offensichtliche Übervorteilung konnte doch nicht unbemerkt bleiben. Die Menschen „drüben“, wir waren ja noch in Bayern, mussten doch alle aus dem Westen für Abzocker halten. Oder waren sie blind? Oder nur gierig auf Westautos? Wie trat man uns entgegen?

Es war ein Sonntagmorgen. Wir näherten uns der ehemaligen Grenzkontrollstelle. Das Wetter war unserer Stimmung angemessen. Neblig, trübe, kalt. Noch vor wenigen Monaten wäre hier die Welt für mich zu Ende gewesen. Bei einem Grenzübertritt hätten Festnahme, Durchsuchung, Vernehmung, Haft und andere Unannehmlichkeiten gedroht. Einen Angehörigen der Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes zu erwischen, hätte dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR, kurz MfS genannt, seinerzeit bestimmt viel Vergnügen bereitet …

Aus dem Nebel schälten sich die Gebäude der Grenzanlagen. Leere Fensterhöhlen, eine Würstchenbude ohne Besucher dort, wo früher die Zollabfertigung gestanden hatte. Schlagbaum, Betonsperre und Zaun waren verschwunden. Der Wachturm war unbesetzt, die Eingangstür bewegte sich quietschend im Wind.

Ein Hauch von Verfall lag über dem jetzt einsamen ehemaligen Grenzkontrollpunkt. Kein Grenzer war zu sehen, keine Kontrolle zu erwarten. Freie Fahrt für freie Bürger.

Die Straße führte in Windungen abwärts. Fast schien es so, als seien wir allein auf der Straße. Es gab kaum Verkehr. Kein Haus und keine Menschenseele waren zu sehen. Aus dem Tal quoll Rauch und verfing sich mit dem Nebel in den Tannen. Gelblicher, leicht schweflig stinkender Qualm.

„Man riecht die Dörfer, bevor man sie sieht“, stellte Karin sachlich fest. Hinter der nächsten Kurve sahen wir die ersten Häuser von Henneberg. Auch hier war kein Mensch auf der Straße.

„Die sind bestimmt alle in der Kirche“, meinte meine Frau.

„Kann sein, schließlich ist Sonntag“, bemerkte ich.

Die Straße führte an dem Ort vorbei und es reizte uns nicht sonderlich, die Bundesstraße 19 zu verlassen.

Der nächste Ort war Sülzfeld. Schmucklose, graue Häuser mit bröckelndem Putz und ungepflegten Vorgärten waren das, was uns in Erinnerung blieb. Aus den Kaminen quoll der gelbliche stinkende Rauch, der uns seit dem Grenzübertritt nach Thüringen begleitet hatte. Auch hier war keine Menschenseele zu sehen.

Unser erster Eindruck von den neuen Ländern war merkwürdig fremd und eher abweisend. Karin hatte recht: Man roch die Orte, bevor man sie sah.

In Meiningen kreuzte das erste Polizeifahrzeug unseren Weg. Ein grauer Wartburg mit Blaulicht. Wie putzig.

Der anfänglich abweisende Eindruck von Land und Orten, der unser Unbehagen zunächst noch verstärkt hatte, wich langsam der Neugier.

Die Straßen wurden belebter, der Fahrzeugverkehr nahm zu und bestand nicht nur aus Trabbis, wie wir das noch vor Kurzem im Fernsehen gesehen hatten. Wir bogen Richtung Eisenach ab.

Eine Villa aus der Gründerzeit war bereits renoviert und sah toll aus. Bei näherem Hinsehen entpuppte sie sich als Zweigstelle der Deutschen Bank.

„Die Banker wohnen und arbeiten im Feinsten und haben sich die Rosinen bereits aus dem Kuchen gepickt“, stellte Karin fest.

Unsere Vorurteile über die Banker, die wir natürlich auch als gelernte Wessis pflegten, fanden sich voll bestätigt.

Zu einer Besichtigung der Stadt Meiningen konnten wir uns nicht durchringen. Sie wurde nach kurzer Beratung auf irgendwann verschoben.

Was sagte uns schon Meiningen? Klar, sie war früher einmal eine fürstliche Residenzstadt gewesen. Mehr aber auch nicht. Wir wollten weiter. Weiter durch den Thüringer Wald nach Eisenach und zur Wartburg. Die kennt man auch als Wessi. Entweder wegen Luther oder der heiligen Elisabeth. Je nach Konfession.

Thüringen hat eine schöne Landschaft mit viel Wald, so hatten wir gelesen. An diesem Tag erschloss sich uns das Land leider nicht in seiner Schönheit. Wie auch?

Nebel und trübe, nasskalte Witterung nahmen der Landschaft ihren Reiz und uns den Wunsch des genaueren Kennenlernens. Vielleicht haben wir ja noch einmal später Gelegenheit, die Reize zu genießen, trösteten wir uns.

Gegen Mittag erreichten wir Schwallungen. Das kleine Dorf unterschied sich durch nichts von den Orten, die wir bisher durchfahren hatten. Mitten im Ort bemerkten wir eine äußerlich schmucklose Dorfkneipe, die auf einer Schiefertafel Mittagtisch anbot. Den gelben, schwefligen Qualm, der auch hier durch den Nebel zwischen die bröckeligen Fassaden der Häuser gedrückt wurde, ignorierend, traten wir ein.

Trübes Licht, Tresen und Tische aus Sprelacart, der DDR-Variante des westdeutschen Resopals, verräucherte Luft und die lautstarke Unterhaltung sichtbar angetrunkener Gäste, die ihren Frühschoppen ausgedehnt hatten, empfingen uns. Bei unserem Erscheinen erstarb die lebhafte Diskussion schlagartig. Gäste und Wirt, der hinter dem Tresen einige Biere und Schnäpse einschenkte, musterten uns von oben bis unten.

Das Ergebnis der Studien war allen im Gesicht abzulesen. Aha, Fremde und Wessis. Was die hier wohl wollen?

Wir wollten etwas zu essen und zu trinken.

Schnell und eifrig wurde durch die Gastwirtstochter ein Tisch eingedeckt und eine handgeschriebene Speisekarte gereicht, auf der die Preisauszeichnung fehlte.

Die Karte war zu unserer Überraschung ausgesprochen umfangreich. Das hätten wir in dieser kleinen Dorfkneipe nicht erwartet. Aber wer weiß schon, was sich hinter den angepriesenen Gerichten wirklich verbarg. Unsere Skepsis vermochten wir zu verbergen und entschieden uns für eine Soljanka als Vorspeise, weil sie sich für uns so fremdartig und irgendwie russisch anhörte.

Als Hauptgericht wählten wir Hirschbraten mit Rotkohl und als Sättigungsbeilage, nachdem uns der Begriff als solcher erklärt worden war, entschieden wir uns für Knödel. Zuerst kam die Soljanka. Ein Traum in Öl. Reichlich, gehaltvoll und gewöhnungsbedürftig vom Geschmack, weil süßsauer. Allein davon war Karin schon satt. Auf die Hauptmahlzeit hätte sie jetzt gut und gerne verzichten können. Deshalb riet sie in weiser Voraussicht, den Braten abzubestellen, was ich empört ablehnte. Bestellt ist bestellt und aus dem Westen kennt man das ja mit den Wildgerichten. Die Portionen sind klein, dafür teuer und das Fleisch findet man mit Mühe unter den Beilagen.

Es kam, wie es nach der Vorahnung meiner Frau kommen musste. Von der Portion Hirschbraten mit Rotkohl und Klößen, alles hervorragend zubereitet und sehr schmackhaft, hätte eine mehrköpfige Familie problemlos satt werden können.

Den angebotenen Nachtisch lehnten wir mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns ab. Mehr war nicht zu schaffen.

Mit Schrecken dachte ich an die Rechnung und war sehr überrascht, als für alles zusammen nicht mehr verlangt wurde, als im Westen für eine kleine Zwischenmahlzeit.

Die fröhlichen Zecher hatten zwischenzeitlich ihre Scheu vor den plötzlich und unerwartet erschienenen Wessis überwunden. Ihre Artikulationsfähigkeit hatten sie trotz reichlich genossener brauner und weißer Kurzgetränke wiedergefunden und erfragten freundlich das Woher und Wohin.

So gestaltete sich die Mittagspause wesentlich länger als erwartet.

Schwallungens Gastronomie, vom Ambiente einmal abgesehen und die zwanglose Runde der fröhlichen Zecher waren der erste positive Eindruck an diesem trüben Tag und für die Reise prägend.“

Erstmals 1991 veröffentlichte Brigitte Birnbaum bei der Landesverlags- und Druckgesellschaft mbH Mecklenburg & Co. KG „Das Schloss an der Nebel“: Baugeschichten, Schlossgeschichten sind immer Menschengeschichten, denn jede Zeit hat ihre Schicksale und im Güstrower Schloss wohnten nicht nur die hochgeborenen Fürsten zu Wenden, die Grafen zu Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herren. Oder General Wallenstein. Auch Kinder, nicht nur adlige, lebten dort, wie das Wendenmädchen Ilsabe, „kleine Küchenschabe“ genannt, und der Fuerböter Jochim oder Bastian und Maria, die Kinder der eingefangenen Landstreicher. In kleinen, spannenden Erzählungen wird die mit dem Leben dieser Kinder verbundene Schlossgeschichte nahegebracht. Und so geht es los:

1. Kapitel

Vorm Schloss wollten wir uns treffen. So war es vereinbart. Hier vor dem Fürstlichen Haus zu Güstrow. Ich finde, es sieht noch gar nicht so alt aus, wie es sein soll, auch nicht besonders prächtig. Eher einzigartig und riesig, obwohl von der Brücke aus niemand merkt, dass beinah schon die Hälfte fehlt. Noch immer wirkt es viel zu groß für die kleine Stadt. Ein Palazzo in Mecklenburg. Mir scheint es fremd in dieser Landschaft. Aber das macht wohl mein Ärger, weil ich warten muss.

Wie ein Wachsoldat pendle ich vor dem Torhaus hin und her. Ist das eine Art, mich lauern zu lassen? Da hätte ich mich auch mit Wallenstein oder dem Herzog Ulrich verabreden können. Die Herren wären ebenso wenig erschienen.

Und wenn? Ja, wenn! Was hätte ich dann gesagt? Wie müsste ich ihn ansprechen, den Herzog Ulrich zu Mecklenburg? Mindestens wohl mit „Von Gottes Gnaden Durchlauchtigster hochgeborener Fürst zu Wenden, Graf zu Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herr“. Hätte er sich überhaupt ansprechen lassen? Von mir? Mitten auf der hölzernen Fallbrücke, die mit Ketten auf- und zugemacht wurde? Seine Leibgarde würde es mir schon gezeigt haben. Mit llsabe wär ich ins Gespräch gekommen, mit ihr bestimmt. Wenn ihr zum Schwatzen auch selten Zeit bleibt.

Eben hat sie die Borsten aus dem gebrühten Ferkel puhlen müssen, und es liegen noch ein halbes Dutzend geschlachteter Hühner zum Rupfen.

„Späl nich rümmer!“, wird sie vermahnt. Die Frau des Obersten Herzoglichen Kochs und Küchenschreibers keift gern, hält aber sofort die Hand über llsabe, wenn einer glaubt, der Kleinen etwas am Zeug flicken zu müssen. Und als sie bemerkt, wie eine der älteren Mägde schadenfroh feixt, der unangenehmen Rupferei zu entkommen, packt die Frau die Elfjährige am Arm und schiebt sie zur Tür. „Geh und sieh nach, ob der Herr Bildschneider und seine Gesellen aufgegessen haben.“ Das lässt sich Ilsabe nicht zweimal sagen. Die Finger an der groben Schürze abwischend, hüpft sie hinaus in den leichten Mairegen und über den Schlosshof ins Nige Hus. Die eichene Wendeltreppe im Turm steigt sie langsamer nach oben. Fröstelnd bewegt sie die Schultern. In der Küche war es heiß. Auf der Treppe zieht es aus allen Luken.

Fertig ist das Nige Hus noch immer nicht, obwohl daran gemauert und gezimmert und Ziegelsteine aus einem abgebrochenen Kloster herangefahren werden, seit llsabe denken kann. Im August jenes Sommers, in dem sie hier geboren wurde, also Anno 1557, wie man ihr erzählte, hatte dieser Teil der alten Burg eines Tages aus heiterem Himmel in Flammen gestanden. Kein Blitz entfachte das Feuer, keine unbeaufsichtigte Fackel, kein Funken aus dem Kamin. Herzog Ulrich fragte seltsamer Weise gar nicht danach. Er war verreist, als das Unglück geschah und brachte bei seiner Rückkehr gleich den Baumeister für das neue Haus mit, einen gebürtigen Italiener namens Franciscus de Pario de Bizone oder deutscher: Franz Parr.

Des Herzogs königliche dänische Schwiegereltern gaben Geld, damit ihre Tochter Elisabeth nicht in einer Ruine hausen musste. Parr sollte bauen, wie es in Italien schon lange Mode war und wie es Ulrich in Süddeutschland, wo er aufwuchs und studierte, gesehen hatte: mit großen Fenstern in einer Reihe, Verbindungsgängen im Inneren des Hauses; mit Schornsteinen und Kachelöfen; Glasscheiben in den Fenstern und Loggien, von Säulen getragen. Franz Parr versuchte, die Wünsche des Herzogs zu erfüllen. Er baute in die Breite und fünf Etagen hoch, überzog die plastisch geformten, roten Backsteine mit hellem Mörtel und fasste sie farbig.

Aber was schert solches llsabe, zumal Franz Parr nicht mehr im Lande weilt. Längst ist das dänische Geld vermauert, so wurde in der Küche geflüstert, und Parr hatte sich einem anderen Herrn verdingen müssen. Geblieben war sein Bruder Christoph, der Bildschneider, und zu ihm ist das Mädchen geschickt.

llsabe tritt aus dem Turm auf die Galerie, stemmt sich gleich gegen die erste Tür. Sie ist verschlossen. Das Mädchen läuft unter den beiden Fenstern vorbei zur zweiten Doppeltür, an der ihr die Wache den Eintritt versperrt. Der Soldat tut’s nur zum Scherz, denn er kennt natürlich die kleine Küchenschabe, und will er’s nicht mit der Frau vom Oberhofkoch verderben, lässt er sie besser in Frieden und hinein.

Im Eingang zum Langen Saal verharrt llsabe überrascht. Meister Parr hat Besuch. Außer Jacob und Anton, seinen Gesellen, steht ein Vierter zwischen Holzeimern, Gipstönnchen und dem Durcheinander von Arbeitsgerät. Er steht mit dem Rücken zu llsabe, und sie erkennt ihn nicht sofort. Ihr fällt nur auf, dass Wams, Strümpfe und Schuhe nicht weiß bespritzt sind und von feiner Art. Parr ist von seinem Gerüst gestiegen, das er sich links neben der Tür und über dem Kamin zur Fensternische hin bis kurz unter die Balkendecke errichtet hat. Gewöhnlich klettert er nicht mal zum Essen herab. Jetzt lauscht er kopfnickend dem Mann vor sich, llsabe späht nach dem Schemel mit den Bierkrügen und der Suppenschüssel, kann nicht sehen, ob sie leer ist, weiß nicht, darf sie sie holen. Parr sieht die Kleine, winkt sie aber nicht näher.

Plötzlich springt Geselle Jacob aus dem Hintergrund, bückt sich über den Haufen Hirschgeweihe, hebt eines auf, reicht es dem Meister und der wiederum hält es mit einer Verbeugung dem Besucher entgegen.

Wozu diese vielen Geweihe, überlegt llsabe. Die armen Tiere. Alle tot gehetzt.

Da dreht sich der vor Parr stehende um, schaut hinauf zum Gerüst, und sie erkennt den Herzog. So nah sah sie ihn nie. Sich noch kleiner machend, schmiegt sie sich an die Wand. Hohen Herrn geht ein Mädchen wie sie, zerzaust und nach Hühnerfedern riechend, besser aus dem Weg. Zumal sie nur eine in der Schlossküche Geduldete ist. „Gut, Parr! Mach Er, wie Er meint! Aber mach Er schneller. Und wenn Er mehr braucht“, Herzog Ulrich deutet auf den Berg Geweihe am Fußboden, „sag Er’s!“

„Mein gnädiger Fürst, eher werd ich Geld für Farben brauchen.“

Unvermittelt winkt der Herzog ab und geht an llsabe vorbei, ohne sie überhaupt zu beachten. Groß, breitschultrig, nicht mehr jung, noch nicht alt.

Christoph Parr murmelt unzufrieden. Heftiger als nötig, wirft er die Geweihstange zu den übrigen. Seine Gesellen schwingen sich aufs Gerüst, llsabe tritt nun ein und wagt neugierige Blicke unter die Balkendecke, wo starke, verbogene und mit Werg und Rosshaar umwickelte Schmiedenägel armlang aus der Wand ragen. Wozu diese Gebilde?

Noch immer die Nase nach oben, rempelt sie fast den Meister Parr an. Er fängt sie seitlich ab und staunt über die schwarzen Augen des Mädchens, die sich erschrocken auf ihn richten. Heißt es nicht, im Norden seien alle blond und helläugig?

llsabe flutscht um ihn herum.

„Zu wem gehörst du eigentlich?“, fragt er.

„Zu niemand.“

„Bist wohl vom Himmel gefallen?“ Er lacht gutmütig. Sie zuckt zusammen. Glaubt der Herr Bildschneider etwa auch die Geschichte? Woher kennt er sie? Er kommt doch niemals in die Küche. Er kann doch gar nicht gehört haben, was der Herr Oberste Koch ihr nachredet, wenn er ein paar Becher Branntwein probiert hat und sie ihm unter die Augen gerät. Der Wilde Jäger habe sie im Burghof vergessen, damals, als sie noch einer seiner Hunde gewesen sei. Ungetaufte Kinder mache jener nämlich zu Kötern und hätte man bloß versäumt, sie rechtzeitig zurückzuverwandeln. Einige vom Gesinde glauben tatsächlich, Ilsabe müsse so lange in Menschengestalt herumlaufen, bis der Wilde sie eines Nachts zwischen Weihnachten und Neujahr wieder in sein jaulendes und blaffendes Gefolge, mit dem er durch die Lüfte braust, einreihe.“

Erstmals 2005 erschien im Mauer Verlag Wilfried Kriese Rottenburg a/N. „Pfade hinaus. Episoden der Erinnerung“ von Uwe Berger: In diesem Buch legt Uwe Berger konzentrierte persönliche Erinnerungen vor. Es sind authentische Erlebnisse, die das Gestern mit dem Heute und das Nahe mit dem Fernen verbinden. Die Gedanken wandern zwischen Literatur und Natur, setzen gegen erdrückende Diktatur lebendige Toleranz. Episodenhaft angedeutet sind Schicksale und Entwicklungen, und der Weg eines Hugenotten zum Weltbürger zeichnet sich ab. Hier ein kurzer Ausschnitt:

„Verletzungen

Als Vierzehnjähriger betrat ich zum ersten Mal polnischen Boden, den ebenen, lehmigen Boden zwischen Warthe und Weichsel, und ich spürte beklommen „die Stille, diese harte Stille, die von all dem Schreien nicht ausgefüllt werden konnte“. In Konin gestikulierte und kreischte ein hellbraun gekleideter Hanswurst vor evakuierten Kindern aus Berlin. Was er sagte, weiß ich nicht mehr; der Klang seiner Worte aber war gefährlich. In dem Dorf Kleczew nördlich von Konin lernte ich faschistisches Lagerleben kennen. Es war das Kriegsjahr 1943. Noch heute, wenn ich an den Ort denke, rieche ich Heu und Dung, schmecke ich Schuld und Angst.

Dreieinhalb Jahrzehnte später, am 26. September 1980, saß ich östlich von Warschau im Kellergewölbe des von Wald und Finsternis umgebenen Landschlosses von Czarnolas. Dort trafen sich Literaten aus Polen und anderen europäischen Ländern. Mit Marian Pankowski, einem würdigen, weißhaarigen Mann von gewinnendem Wesen, kam ich ins Gespräch. Er hatte eine Professur für Slawistik an der Universität von Brüssel inne. Gebürtiger Pole, war er durch die Hölle von Auschwitz gegangen. Er sagte in fließendem Deutsch: „Die schlimmsten Kapos, die ich in Auschwitz kennenlernen musste, waren Polen.“ Das System pervertiere die Menschen.

Zuvor hatten wir in der Kapelle des Schlosses eine mystisch inszenierte Lesung von Jan Kochanowskis „Treny“ erlebt, dem Liederzyklus auf den Tod seiner Tochter. Die rezitierenden Warschauer Studenten stellten eindringlich die polnische Schicksalsklage dar, gegen die sich der behauptende Wille des großen Renaissance-Poeten erhebt:

Was ist wohl leichter: Sich im Schmerz zu winden oder hart mit der Natur zu ringen?

Wo Kochanowski gelebt hatte, fühlte ich mich polnischer Geschichte, polnischem Wesen nahe.

In Polen bin ich auch dem klassischen deutschen Geist und seinen Quellen begegnet.

Als Mitglied einer Regierungsdelegation fuhr ich am 19. Oktober 1986 mit dem Polonisten Dr. Dietrich Scholze und der polnischen Journalistin Katarzyna Kielczewska von Warschau aus nach Morag in Masuren. Morag, zu deutsch Mohrungen, ist der Geburtsort von Johann Gottfried Herder. Weimarer und Warschauer Wissenschaftler hatten ein kleines Museum zum Gedenken an Herder neu gestaltet. Es sollte feierlich wiedereröffnet werden.

In dem von einem polnischen Fahrer gesteuerten Polonez unterhielten wir uns angeregt in deutscher Sprache, die Katarzyna tadellos beherrschte. Als Scholze wieder eine seiner deutsch-nationalen Tiraden losließ und hinzufügte: „Na ja, da werdet ihr ja wieder gemeinsam den Kopf schütteln“, sah ich die neben mir sitzende Katarzyna verwundert an und erwiderte: „Sind wir denn so? Nein. Nicht wahr, wir sind tolerant.“

Scholze lächelte etwas gequält.

Ich mochte Katarzynas lang gestrecktes Gesicht, ihre sanfte Klugheit. Bei einem Halt legte sie ihre Stirn gegen die weiße Rinde einer Birke.

„Das macht man bei uns so. Das hilft gegen Kopfschmerzen.“

Wir fuhren durch dichte Wälder und vorbei an dunklen Seen. Dann tauchte das Städtchen Morag auf. Kirche und Rathaus, alte Backsteinbauten, umgeben die Stelle, wo einst das Geburtshaus Herders stand. Das nahe gelegene Palais des Grafen von Dohna beherbergte das Herdermuseum sowie Ausstellungen alter niederländischer Porträts und der Landschaften eines modernen Niederländers.

Als wir kamen, drängten sich schon viele Menschen. Zuerst sprach zu der stehenden Versammlung der örtliche Woiwode, dann ein polnischer, dann ein deutscher Wissenschaftler, dann der Gdansker DDR-KonsuI und schließlich ich. Eigentlich war es eine Komödie. Aber ich wollte bestimme Sätze loswerden. Katarzyna kannte sie bereits und übersetzte: „Im Gegensatz zu Schiller, der das Reich der Freiheit in die Kunst verlegt, fordert Herder die Einheit von Erkenntnis und Wirken.

Schon 1772 hat Herder auf die Leistung der alten Griechen verwiesen, fremde Ideen in ihre eigene Natur zu verwandeln, und die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen den Kulturen erkannt. In den ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ rühmt Herder die geräuschlose, fleißige Gegenwart der slawischen Völker; und er wünscht ihnen, dass sie von ihren Sklavenketten befreit würden und ihre schönen Gegenden vom adriatischen Meer bis zum karpatischen Gebirge als Eigentum nutzen und ihre alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürften.

In den ,Briefen zur Beförderung der Humanität‘ aber, jenem bedeutenden Werk, das unter dem Eindruck der Französischen Revolution entstand, verbindet sich der Gedanke der freien nationalen Entwicklung Deutschlands mit dem Gedanken der Freundschaft zu allen Völkern. Jede Nation müsse es als unangenehm empfinden, wenn eine andere Nation beschimpft und beleidigt wird …

Wir Deutschen haben besonderen Grund, uns daran zu erinnern.“

Wie mir Katarzyna auf meine Frage hin anvertraute, hatte der polnische Wissenschaftler durch pedantische Genealogie nachweisen wollen, dass Herder ja eigentlich eher Pole als Deutscher sei. Bei dem anschließenden Essen für ein paar Ehrengäste stand Scholze auf und brachte einen Toast aus.

„Oh, er spricht ja polnisch“, bemerkte jemand bewundernd.

„Und was hat er gesagt?“, fragte ich Katarzyna.

„Dass sich der andere Teil der Delegation zurzeit in einer Chopin-Gedenkstätte aufhalte und dass Chopin ja eigentlich Deutscher sei.“

Wir blickten uns an; lächeln konnten wir nicht. Auf der Rückfahrt streifte Katarzyna die Schuhe ab, zog ihre Beine neben mir auf das Polster und schlief.“

Und damit sind wir wieder einmal am Ende der fünf Präsentationen, die eine zumindest literarische Reise durch Welten und Zeiten erlauben und mit sehr verschiedenen Menschenschicksalen bekanntmachen. Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Januar, der vielleicht etwas mehr Durchblick in den Corona-Angelegenheiten bringen möge, und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter. Ach, und was wissen Sie eigentlich über Thüringen und speziell über Meiningen? Oder gar über das Dorf Schwallungen? Laut Wikipedia eine Gemeinde im Landkreis Schmalkalden-Meiningen in Thüringen mit langer Geschichte. Bisher bietet das Internet-Lexikon jedoch noch keinen Hinweis auf die Erwähnung zu Wendezeiten in einem autobiografischen Roman eines gewissen Ulrich Hinse …

 

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