Die Farben der Avantgarde: 10.07. – 7.11.2021

Heckel begeistert sich für ein »brennendes« Rot, Kirchner freut sich über das »starke Violett«, Jawlensky stimmt ein »mystisches« Blau an, Beckmann konturiert seine Motive mit »magischem« Schwarz und Modersohn-Becker schwelgt in »Farbenstimmung«. Die Farben sind von großer Wichtigkeit für die Avantgarde, jener internationalen Strömung der frühen Moderne, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Expressionismus in Deutschland niederschlägt. Was ist neu an ihrem Kolorit? Welche Bedeutung messen die Avantgardist*innen ihren Farben und Farbzusammenstellungen bei? Und warum ist das heute genauso spannend wie damals?

WAS WAR DAVOR?

In früheren Zeiten mussten sich die Maler*innen ihre Farbpasten selbst anrühren. Dafür vermischten sie Farbpigmente mit einem Bindemittel, etwa Leinöl. Die Pigmente wurden aus anorganischen Farbmitteln hergestellt, also aus Erden wie Ocker oder Mineralien wie Eisenoxid, sowie aus organischen Farbstoffen, etwa dem Urin von Kühen bei Indischgelb oder den Blüten der Indigo­pflanze bei Indigoblau. Manche Pigmente waren selten und daher teuer.

DIE ERFINDUNG DER FARBTUBE

Mit Erstarken der Chemieindustrie im 19. Jahrhundert wuchs die Palette kostengünstiger synthetischer Farbpigmente. Ab 1841 gab es Ölfarben fertig gemischt und abgefüllt in verschließbaren Bleituben zu kaufen. Befreit von ihrem eigenen Farbmischlabor, konnten die Maler*innen nun mit Malkasten, Leinwand und Staffelei unterm Arm hinausziehen in die Welt. Die Bewegung der Freilichtmalerei erstarkte, so die Schule von Barbizon in Frankreich (1830–1870), die Künstlerkolonien in Dachau (ab 1875) oder in Worpswede (ab 1889). Landschaften wurden nun im unmittelbaren Abgleich mit der Realität auf die Leinwand gebracht werden.

DIE ENTDECKUNG DER FOTOGRAFIE

Neben der Entwicklung der Farbindustrie war auch das Hervorkommen der Fotografie ab 1826 eine entscheidende Vorbedingung der Avantgarde. Mit ihrer Verbreitung wurde die Malerei zur Abbildung der Wirklichkeit nicht mehr ­gebraucht. Wollte sie dennoch ihre kulturelle Stellung nicht verlieren,

musste sie sich ändern. Ihr Akzent verschob sich von der objektiven ­Darstellung hin zur ­subjektiven Interpretation der Wirklichkeit. In Abgrenzung zur Fotografie, die bis in die 1930er Jahre hinein schwarz-weiß blieb, gewannen dabei Farben als Ausdrucksträger an Bedeutung.

IMPRESSIONISMUS

Die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts übte sich noch in realistischer Darstellungsweise. Doch wurden ­häufig besonders farbintensive Lichtsituationen hervorgehoben und als Stimmungsträger interpretiert. Um 1870 leitete der Impressionismus einen Wechsel der Blickrichtung ein. Es ging nun nicht mehr um die Welt vor unseren Augen, sondern um den Eindruck, den die Welt in unseren Augen hinterlässt. Die Beleuchtungssituation ist nun das Thema. Die Malerei schwelgt in reinen Spektralfarben, welche der Wiedergabe der Lichtreflexe dienen sollen. Strich für Strich werden sie mit dem Pinsel neben­einander gesetzt. Unsere Eigenleistung ist bei der Betrachtung gefragt. Denn erst bei der Wahrnehmung setzen sich die Farbelemente des Gemäldes wieder zu den Formen der dargestellten Welt zusammen.

EXPRESSIONISMUS

Um 1900 befreien sich die Farben gänzlich von dem Zwang der objektiven Wirklichkeitswiedergabe. Die realistische Lokalfarbe und die impressionistische Erscheinungsfarbe sind bei der Farbwahl nicht mehr maßgeblich. Die Farben werden nun zum rein subjektiven Ausdruckträger. Die Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker ist die erste, die eine expressionistische Farbtheorie entwickelt. Ihre persönliche Empfindung ist für ihre Farbkonzeption entscheidend, nicht das Studium der Natur. Ihre Farbpalette soll eine einheitliche »Farbenstimmung« zum Ausdruck bringen. Ernst Ludwig Kirchner, Mitbegründer der 1905 in Dresden gegründeten Künstlergruppe »Brücke« vertritt eine ähnliche Auffassung. Er fertig immer »zwei Malereien«, zunächst eine »von der Natur« und dann eine »ganz frei aus dem Kopf«. Er nimmt die impressionistischen Erscheinungsfarben bei der Naturbeobachtung in sich auf, um sie dann unabhängig vom Wirklichkeitsbezug frei nach ­seinem Empfinden einzusetzen. Während bei Kirchner die Farben Ausdruck seines Lebensgefühls sind, gelten sie für Alexej von ­Jawlensky, Mitglied der 1911 in München gegründeten Gemeinschaft »Blauer Reiter«, als Symbol mystischer Transzendenzerfahrung. Im Expressionismus verlieren die Farben an Realitätswert. Dafür gewinnen sie an Symbolwert. Nicht was wir sehen, sondern was wir empfinden, fühlen, glauben und denken wird durch die Farben zum Ausdruck gebracht. Hierfür werden die Farben gegenüber einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung vereinfacht, verzerrt oder verfehlt. Tonige Übergänge sowie Licht- und Schattenwirkungen werden weitgehend vermieden. Kräftige, ungebrochene Farben werden verwendet, die in harten Kontrasten zueinander stehen. Die Themen, die in den Farbkompositionen zum Ausdruck kommen, sind Erotik, Freundschaft, Naturerleben, Alltagsszenen und Transzendenzerfahrungen.

DIE AUSSTELLUNG

Zu sehen sind 76 Gemälde von Cuno Amiet, Max Beckmann, Otto Beyer, Fritz Bleyl, Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Max Kaus, Ernst Ludwig Kirchner, Rudolf Levy, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Emil Nolde, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und, als Dialogpartner der Gegenwart, Bernd Zimmer. Sie stammen aus den Beständen des Buchheim Museums, aus der Sammlung Hermann Gerlinger sowie von weiteren privaten Leihgebern. Gegliedert sind sie weder chronologisch, noch nach Namen, noch nach Bildinhalten, sondern nach den Farben und Kontrasten, die in ihren Kompositionen jeweils zentral sind. Das menschliche Auge kann bis zu eine Millionen Farben unterscheiden. Die deutsche Sprache kennt 75.000 Wörter für Farben. Dem Farbforscher und Wahrnehmungspsychologen Axel Buether folgend, werden hier stellvertretend neun Farben ausgewählt, die im Expressionismus und im Leben besonders wichtig sind, die reinen Farben des Regenbogens, die bei der spektralen Zerlegung von Licht entstehen und die nicht weiter zerlegbar sind: Gelb, Orange, Rot, Pink, Blau, Türkis, Grün; ­sowie zusätzlich Braun und Schwarz.

Die Ausstellung soll wegführen von einer kunsthistorischen, von Begriffen geprägten Kunstbetrachtung. Sie soll die Augen, die Herzen und den Geist öffnen für das Wunder der Farbe in der Malerei. Hier ist jeder Experte, denn wir alle haben natürliche und kulturelle Erfahrungen mit Farben und verbinden bestimmte Bedeutungen mit ihnen. So kann die Kunst ihrem eigentlichen Ziel zugeführt werden. Sie ist eine Einladung an alle zum Schauen, zum Fühlen und zum Denken. Sie gibt uns den Anstoß, unser Leben freier, ­offener und phantasievoller zu gestalten, gerade so, wie die Avantgardist*innen die Farben freier, offener und phantasievoller als die Künstler*innen vor ihnen einsetzten. Die Ausstellung ist Teil der Ausstellungsreihe »Avantgarde in Farbe« der MuSeenLandschaft Expressionismus.

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