Corona-Indikatoren: Das Glas ist immer noch halb voll

Der Abwärtstrend bei der 7-Tage-Inzidenz hat sich in Deutschland zuletzt nicht fortgesetzt. Ein Grund hierfür dürfte darin liegen, dass sich die ansteckenderen Virusmutationen in Deutschland zunehmend verbreiten. Auch der schleppende Impfprozess drückt auf die Stimmung. Gleichwohl gibt es Gründe für vorsichtigen Optimismus. So sinken die Todesfallzahlen im Zusammenhang mit Corona, die Zahl der Intensivpatienten sowie die Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen als Folge der Impfungen. Zudem sind viele Gesundheitsämter wieder besser in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen. Auch bei der Behandlung von COVID-19 wird es Fortschritte geben. Die Politik dürfte angesichts der Risiken durch Virusmutationen weiterhin vorsichtig agieren, aber verstärkt auch andere Corona-Indikatoren als die 7-Tage-Inzididenz berücksichtigen.

Die aktuelle 7-Tage-Inzidenz dient Politik und Medien nach wie vor als wichtigster Indikator für das Ausmaß der Corona-Krise. Den deutschlandweit höchsten Stand erreichte die Inzidenz kurz vor Weihnachten mit einem Wert von 197. Sie tendierte ab der ersten Januarhälfte stetig nach unten und lag Mitte Februar unter der Marke von 60. Dieser Abwärtstrend hat sich in den letzten Tagen jedoch nicht fortgesetzt. Stattdessen pendelte die Inzidenz zuletzt um die 60. Ein Grund für den Trendbruch dürfte darin liegen, dass sich die ansteckenderen Virusmutationen auch in Deutschland weiter verbreiten. So kommt allein die britische Variante (B.1.1.7) inzwischen auf einen Anteil von rd. 30% an allen Neuinfektionen. Ende Januar waren es erst 9%.

Aktuell öffnen in vielen Bundesländern die Kitas. In Schulen steigt der Anteil des Präsenzunterrichts, wenngleich dies zumeist für die unteren Jahrgangsstufen gilt und/oder auf Wechselunterricht begrenzt ist. Ab Anfang März dürfen Friseurbetriebe wieder öffnen, in Bayern auch Bau- und Gartenmärkte. Zugleich ist im Corona-Beschluss der Bund-Länder-Konferenz vom 10. Februar festgelegt, dass „der nächste Öffnungsschritt [erst] bei einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von höchstens 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner“ erfolgen kann. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

In dieser unsicheren Gemengelage ist es wenig überraschend, dass die politische Debatte über Zeitpunkt und Umfang weiterer Öffnungsschritte intensiver wird. Auf der einen Seite sehen manche Politiker Deutschland schon am Beginn der dritten Infektionswelle. Virologen und Mediziner warnen vor zu frühen Lockerungen. Auf der anderen Seite werden verlässlichere Öffnungsperspektiven für die Wirtschaft gefordert. Zudem verteidigen Bildungs- und Familienpolitiker die Rückkehr zu mehr Präsenzunterricht nicht zuletzt mit Verweis auf die Nachteile des Distanzunterrichts gerade für Kinder und Jugendliche aus den so bezeichneten bildungsfernen Schichten.

Trotz der Differenzen im Detail gibt es so gut wie keine Stimmen aus Politik und Wirtschaft, die eine schnelle Rückkehr zur Normalität (also eine umfassende Öffnung) fordern oder in Aussicht stellen. Angesichts des derzeitigen Infektionsgeschehens und des schwer einschätzbaren Risikos der Virusmutationen überwiegt offenkundig das Vorsichtsprinzip. Einen abermaligen Lockdown nach einer (zu schnellen) Öffnung weiterer Wirtschaftsbereiche will die Politik wohl unbedingt vermeiden.

Impfprozess sorgt für Wechselbad der Gefühle

Ein weiterer Grund für die vorsichtige Grundhaltung ist der noch immer schleppende Impfstart. Der gesamte Impfprozess sorgte bislang für ein Wechselbad der Gefühle. Dies fing mit der Zulassung der ersten Impfstoffe gegen COVID-19 an. Sie erfolgte Ende 2020 in Großbritannien, den USA und einige Wochen später in der EU und sorgte zunächst für eine Welle der Euphorie, nicht zuletzt an den Aktienmärkten. Allerdings war schon damals klar, dass Impfstoffe in den ersten Wochen und Monaten nach ihrer Zulassung knapp sein würden. Dies ging in der allgemeinen Begeisterung über den Durchbruch im Kampf gegen Corona aber geflissentlich unter.

Auf die anfängliche Euphorie folgte schon bald die große Enttäuschung, vor allem in der EU sowie in Deutschland. So wurden die EU-Kommission und damit indirekt die Bundesregierung dafür kritisiert, die Impfstoffe bei den einzelnen Herstellern zu spät und in zu geringer Menge bestellt zu haben. Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) blieb nicht von Kritik verschont. Sie schloss die Zulassungsverfahren für die Impfstoffe später ab als die entsprechenden Behörden in den USA und UK, die sich für Notfallzulassungen entschieden hatten. Probleme der Unternehmen beim Hochfahren der Impfstoffproduktion verdüsterten zu Jahresbeginn die Aussichten auf eine rasche Verbesserung der Versorgungssituation und schnelle Durchimpfung. Die Bilder von leer stehenden Impfzentren in Deutschland und lange Wartezeiten bei der Vereinbarung von Impfterminen für Menschen über 80 Jahre trugen ihren Teil zur Enttäuschung bei. All das wurde zu einem medialen Dauerthema ohne wesentlichen neuen Erkenntnisgewinn, bei dem sich so mancher Akteur in seiner Empörung gefiel.

Beim „nationalen Impfgipfel“ Anfang Februar betonte die Bundesregierung, dass es bis in den April hinein bei den Engpässen bleiben werde. In Summe stellte sie für das 1. Quartal die Lieferung von gut 18 Mio. Impfdosen in Aussicht. Im 2. Quartal seien etwa 77 Mio. Dosen zu erwarten und im 3. Quartal sollen knapp 127 Mio. Impfdosen geliefert werden. Damit wird sich die aktuelle Knappheit erst im Verlauf des 2. Quartals entspannen.

Je nach Sichtweise kann man die aktuelle Situation unterschiedlich interpretieren. Für die einen dominiert die vorerst unzureichende Verfügbarkeit an Impfstoffen. Für andere überwiegen die positiven Aussichten, weil bereits ein knappes Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie schon mehrere Impfstoffe gegen das Virus zugelassen sind und weitere auf den Markt kommen werden.

Impfstoffknappheit im 2. Halbjahr kein Thema mehr

Die Knappheit an Impfstoffen wird im Laufe des Jahres nachlassen und vermutlich in der 2. Jahreshälfte kein Problem mehr sein. Selbst für den Fall, dass bereits geimpfte Menschen nach einiger Zeit eine Auffrischung benötigen, dürften dann genügend Impfstoffe verfügbar sein. Die Bundesregierung will bis zum Ende des Sommers (21. September) jedem Menschen in Deutschland ein Impfangebot machen. Dies gilt auch für den Fall, dass kein weiterer Impfstoff mehr auf den Markt kommt und „lediglich“ die bereits zugelassenen Präparate von Biontech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca genutzt werden können.

Positiv ist, dass die bislang erfolgten Impfungen bei den Hochrisikogruppen Wirkung zeigen. So geht die Zahl der Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen seit einigen Wochen zurück. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis alle Bewohner solcher Einrichtungen geimpft sein werden, wenn sie dies möchten. Auch bei Pflegekräften, medizinischem Personal und anderen Personen, die der Prioritätsstufe 1 angehören (z.B. Menschen über 80), schreiten die Impfungen voran. Bis Ende Februar dürften etwa 6 Mio. Impfdosen verabreicht worden sein. Schon die erste Impfung reduziert das Risiko schwerer Krankheitsverläufe. Im gesamten 1. Quartal sollen etwa 10 Mio. Menschen in Deutschland geimpft werden.

Andere Indikatoren werden in den Fokus rücken

Dennoch verstummt die generelle Kritik noch immer nicht (zu spät, zu langsam, zu wenig). Und natürlich sind Berichte über „Vordrängler“ bei Impfungen oder verfügbare Impfstoffe, die aus welchen Gründen auch immer nicht verabreicht werden können, nicht hilfreich für das Vertrauen in die zuständigen Institutionen. Es mag jeder für sich entscheiden, ob solche Einzelfälle genug Anlass für erneute Empörung bieten. Konstruktiver sind dagegen konkrete Verbesserungsvorschläge (z.B. Änderung der Impfreihenfolge zugunsten von Beschäftigen in Kitas und Schulen).

Trotz aller Kritik zeigt sich im Ergebnis, dass durch die steigende Zahl an Impfungen bei älteren Menschen der Druck auf die Intensivstationen der Krankenhäuser sinkt. Die Zahl der Intensivpatienten in Deutschland ist seit dem Höhepunkt von 5.762 Menschen Anfang Januar inzwischen auf knapp über 3.000 gesunken. Es ist tragisch, dass ein Teil dieses Rückgangs auf den COVID-19-Tod von Intensivpatienten zurückzuführen ist. Allerdings sinkt die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona inzwischen auch seit Wochen. Bei einer dritten Infektionswelle wären große Teile der Hochrisikogruppen durch Impfungen geschützt. Die gegenüber Ende 2020 insgesamt deutlich niedrigere 7-Tage-Inzidenz reduziert ebenfalls den Druck auf die Krankenhäuser. Zudem gelingt es den Gesundheitsämtern inzwischen wieder besser, Infektionsketten nachzuverfolgen. Das sind ebenfalls wichtige Corona-Indikatoren, die sich positiv entwickeln.

Durch den medialen und politischen Fokus auf die Impfstoffknappheit ist zudem in den Hintergrund gerückt, dass die EMA mit der Prüfung eines Antikörper-Medikaments gegen COVID-19 begonnen hat. Dieses Medikament hat in den USA bereits eine Notfallzulassung erhalten. Es soll schwere Krankheitsverläufe bei Risikopatienten verhindern oder abmildern. Weiterer Fortschritt bei der Medikation ist in den kommenden Monaten zu erwarten.

Berechtigte Hoffnungen ruhen auf den wärmeren Temperaturen ab März/April. Die erste Corona-Welle brach im April 2020, als die damaligen Lockdown-Maßnahmen ihre Wirkung entfalteten. Trotz der anschließenden Öffnungen blieben die Neuinfektionen über den gesamten Sommer auf einem niedrigen Niveau. Sie lagen von Mitte Mai bis Anfang August durchweg unter 1.000 pro Tag. Erst im Verlauf des Septembers und stark beschleunigt im Oktober tendierten die Fallzahlen wieder merklich nach oben. Im Sommer waren über Wochen weniger als 300 Corona-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung. Mit den Impfungen sowie der einsetzenden Herdenimmunität auch durch die bereits infizierten und für eine gewisse Zeit immunen Menschen dürften die relevanten Zahlen im Sommer 2021 sogar noch günstiger ausfallen als im letzten Jahr. Dazu könnte auch beitragen, dass im Einzelhandel und ÖPNV das Tragen von medizinischen Masken (statt Alltagsmasken) vorerst Pflicht bleiben wird und dass viele Gesundheitsämter technologisch und personell aufgerüstet haben. Zudem sollen ab dem Frühjahr Schnelltests für den Eigengebrauch verfügbar sein, wenn auch später, als die von Gesundheitsminister Spahn zunächst angekündigt wurde (Vorsicht: Empörungspotenzial).

Mutationen als Unsicherheitsfaktor

Die Corona-Mutationen sind aktuell wohl der größte Risikofaktor. Sie haben dazu beigetragen, dass die 7-Tage-Inzidenz zuletzt nicht weiter gesunken ist. Es ist jedoch ein positives Signal, dass die täglichen Neuinfektionen auch in jenen europäischen Ländern seit einigen Wochen sinken bzw. auf relativ niedrigem Niveau stagnieren, in denen die Mutationen weiter verbreitet sind als in Deutschland (z.B. UK, Irland, Dänemark, Portugal). Zudem sieht es danach aus, dass die Impfstoffe auch gegen die neuen Mutationen wirken und zumindest das Risiko von schweren Krankheitsverläufen vermindert wird.

Andere Corona-Indikatoren entwickeln sich dagegen positiver. Das gilt vor allem für die Auslastung der Intensivstationen sowie die Todesfallzahlen. Diese und andere Indikatoren dürften und sollten in den kommenden Wochen stärker in den Fokus rücken, wenn die Politik über Öffnungsstrategien berät. Auch das RKI hält die Kopplung von Öffnungsschritten an einen Indikator wie die Inzidenz nicht für ausreichend. Es gibt keine Gründe für Euphorie, jedoch für vorsichtigen Optimismus. Für mich ist beim Blick auf die verschiedenen Corona-Indikatoren das Glas jedenfalls immer noch halb voll.

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