Kinderheime: Ausgeliefert und verdrängt?

„Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für die deutsche Nachkriegsgeschichte wichtig, aber es gibt Bereiche, in denen sie unzureichend erfolgt ist“, kritisieren Peter Caspari, Helga Dill, Gerhard Hackenschmied und Florian Straus. Die Belange ehemaliger Heimkinder seien erst spät in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt. Viele berichten von traumatisierenden Lebens- und Erziehungsverhältnissen. Die von 2012 bis 2018 von Bund, Ländern und Kirchen eingerichteten Fonds boten Betroffenen erste materielle und therapeutische Hilfen an. Die gerade erschienene Studie Ausgeliefert und verdrängt weist jetzt am Beispiel von Bayern nach, dass die dort getroffenen Maßnahmen einen wirksamen Beitrag zur Unterstützung ehemaliger Heimkinder leisteten – vor dem Hintergrund eines bislang noch nicht bekannten Ausmaßes an Misshandlung und sexualisierter Gewalt. Und dass die Aufarbeitung noch nicht zu Ende sein darf. Die Studie ist in der Buchreihe Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend: Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung erschienen.

Schätzungen zufolge waren zwischen 1949 und 1975 etwa 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche in west- und ostdeutschen Einrichtungen untergebracht. „Heimkindheiten waren nicht nur geprägt von einer systematischen Vernachlässigung des Kindeswohls, sondern auch von Gewalterfahrungen, Erniedrigung und Missbrauch“, mahnen die Autor*innen der Studie. Die bayerische Landespolitik hätte sich seit 2012 des Themas angenommen. Die jetzt erschienene Studie behandelt dieses Beispiel in zwei Kernthemen: Eine Evaluation der Arbeit der dort eingerichteten Anlauf- und Beratungsstelle sowie eine wissenschaftliche Analyse der Biografien ehemaliger Heimkinder. Die Ergebnisse vermitteln ein Schreckensszenario: Dreiviertel der Betroffenen hat physische Gewalt erlebt. Das Spektrum reicht von Schlägen über Einsperren und Essenszwang bis hin zu Knien auf Holzscheiten und stundenlangem Stehen. Ein ähnlich hoher Anteil berichtet über Formen psychischer Gewalt wie Bedrohungen, Demütigungen, Isolation, Zerstören von Bindungen und religiös bemäntelte Erniedrigungen. Noch erschreckender ist für die Autor*innen der Befund, dass gut ein Drittel der Befragten sexualisierte Gewalt erlebten: „Es entstehen Bilder von einer ‚totalen Institution‘, in der manche Kinder von Geburt an und oft bis zum 18. Lebensjahr untergebracht waren, und in der Biografien gebrochen und zerstört wurden.“

Die Aufarbeitung in Bayern verbuchen Caspari et.al. als Teilerfolg. Sicherlich aber konnten die Folgen weder durch materielle Leistungen noch durch psychosoziale Begleitung behoben werden. Wichtig sei aber, dass die Arbeit weitergeht: „Viele Betroffene brauchen weiterhin Unterstützung – es geht auch darum, dass sie im höheren Lebensalter nicht erneut in ein Heim müssen, sondern dass nach Alternativen für ein würdiges Altwerden für sie gesucht wird.“ Die Aufarbeitungsstudie stelle zudem eine Mahnung an die gegenwärtige stationäre Kinder- und Jugendhilfe dar, indem sie alle Formen von Gewalt, Vernachlässigung und Machtmissbrauch in ihrer zerstörerischen Wirkung auf die betroffenen jungen Menschen beschreibt.

Dr. Peter Caspari ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und arbeitet als Berater und Therapeut in der Fachberatungsstelle KIBS (Kinderschutz München e.V.) in München. Helga Dill ist Geschäftsführerin des IPP. Gerhard Hackenschmied ist wissenschaftlicher Mitarbeiter dort, und Dr. Florian Straus leitet das IPP zusammen mit Helga Dill.

Peter Caspari | Helga Dill | Gerhard Hackenschmied | Florian Straus
Ausgeliefert und verdrängt – Heimkindheiten zwischen 1949 und 1975 und die Auswirkungen auf die Lebensführung Betroffene
2021, 444 S.
Softcover € 49,99 (D) | € 51,39 (A) | sFr 55.50 (CH)
ISBN 978-3-658-31475-0
Auch als eBook verfügbar

Weitere Informationen

Informationen zum Buch
www.springer.com/de/book/9783658314750  
Informationen zur Buchreihe Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend: Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung
www.springer.com/series/15550

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