Lust auf Scotch, grüne Augen, eine sprechende Krähe und Briefe aus der Heimat – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Zu den großen Vorzügen von Literatur gehört es, manches ausprobieren zu können, was im realen Leben nicht oder zumindest noch nicht möglich scheint – gewissermaßen zu experimentieren. Mit Hilfe einer Art literarischen Versuchsanordnung kann man dann schauen, wie sich die Dinge entwickeln oder wie sie sich zumindest entwickeln könnten. Genau dies geschieht in den insgesamt fünf aktuellen Angebote dieser Ausgabe, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 18.10.19 – Freitag, 25.10.19) zu haben sind. Und dabei ist es ziemlich egal, ob sich diese Geschehnisse in weit zurückliegenden oder in zukünftigen Zeiten ereignen. Spannend zu lesen ist es allemal, wie sich die beteiligten Menschen verhalten.

Um eine selbstbewusste junge Frau, die zu DDR-Zeiten in einen verheirateten Mann verliebt ist, geht es in „Vera Granford“ von Wolfgang Licht.

Von einer sehr ungewöhnlichen Freundschaft kurz vor dem Spartacus-Aufstand im alten Rom erzählt Waldtraut Lewin in „Herr Lucius und sein schwarzer Schwan“.

Zum Nachdenken über Tiere und Menschen fordert Barbara Kühl in „Schlappohr, ein irrer Vogel und andere Tiergeschichten“ auf.

In „Blinder Passagier für Bombay“ von Dietmar Beetz sind zwei Schiffslehrlinge zum ersten Mal auf großer Fahrt.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Aber auch wenn sich gegenwärtig fast alle Welt auf diese oder jene Weise mit Klima und Klimawandel beschäftigt, so stehen noch ein paar andere Themen auf der Liste der großen Probleme der Menschheit. Dazu gehören Gentechnik und gentechnische Veränderungen und deren möglicherweise auch heute noch nicht in vollem Umfange abschätzbaren Folgen. Allerdings sind dies keine völlig neuen kritischen Fragen und Zweifel, wie ein kurz nach der Jahrtausendwende veröffentlichtes Buch beweist.

Erstmals 2002 erschien im Krögervertrieb Cottbus der Roman „Chimären“ von Alexander Kröger: Alle Welt redet – oft von jeder Sachkenntnis ungetrübt – vom Klonen, dafür und dagegen. Ethik und Moral werden strapaziert, als gebe es keine historischen Erfahrungen. Dieses Bewegende, Zukunftsbestimmende ist Impulsgeber, Hintergrund zu dem Kröger-Roman „Chimären“ aus dem Jahre 2002. Ein gewagtes Experiment gelingt. Ruhmsucht und kommerzielle Erfolgsaussichten setzen sich gegen ethisch-moralische Bedenken und gesellschaftliche Normen durch. Eine junge Frau kommt zwischen Fronten und in persönliche Konflikte in Bezug auf ihre Partnerschaft und ihr soziales Umfeld. Die Zucht gerät gefahrbringend außer Kontrolle; die Ereignisse eskalieren, bis … Hier der Anfang des 10. Kapitels:

´“Danke, meine Damen und Herren! Im Allgemeinen können wir mit der Entwicklung zufrieden sein. Die Bilanz ist positiv. Das bedeutet nicht, dass wir uns eine Ruhepause gönnen dürfen.“ Uwe Lehmann lehnte sich zurück. „Master Lindsey, mit Ihnen habe ich noch zu reden.“

Die monatliche Berichterstattung war zu Ende. Die leitenden Mitarbeiter verließen das gediegen eingerichtete Sitzungszimmer.

Bislang hatte Shirley Lindsey dem Direktor noch nicht ausführlich über den Ablauf des Tests berichtet. Drei Monate waren vereinbart gewesen. Natürlich wusste Lehmann vom positiven Verlauf; Details aber blieben dem Endbericht vorbehalten, der an diesem Tag unter Ausschluss der übrigen Leitungsmitglieder fällig war.

Die Sitzungsdauer war Shirley Lindsey wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl auch sie routinehaft zu ihren übrigen Alltagsaufgaben – mit Ausnahme des Sonderauftrages – Stellung zu beziehen hatte. Schließlich sollte öffentlich nicht der Verdacht genährt werden, sie genieße Privilegien.

Gespannt war Shirley Lindsey auf Lehmanns Reaktion und stolz darauf, ein derart positives Ergebnis präsentieren zu können. Dazu hatte sie sich ein besonderes Entree ausgedacht.

Lehmann blickte etwas befremdet, als Shirley Lindsey nach seiner Aufforderung dem Letzten, der den Raum verließ, folgte und zur offenen Tür hinaus „Susan, jetzt!“ rief.

Die Gerufene schleppte zwei verhältnismäßig große und sicher auch schwere geschlossene Tragkäfige ins Zimmer und stellte sie auf den Konferenztisch, auf dem vordem noch gewichtige Unterlagen ihren Platz hatten.

Lehmann verfolgte das Gebaren mit gerunzelter Stirn und verkniff sich eine Frage nach dem Sinn des Ganzen.

Als Susan Remp die Tür hinter sich geschlossen hatte, öffnete Shirley betulich die Klappen der Behältnisse.

Gemächlich krochen Lux und Schäffi hervor. Letztere streckte sich und Lux nagte kurz an seinem linken Hinterlauf eines Juckreizes wegen.

„Na!“, mahnte Shirley.

Lehmann schaute zunächst erstaunt, dann interessiert, betrachtete die beiden jetzt vor ihm in Position sitzenden Wesen eingehend.

Shirley Lindsey, aufgeregt und gespannt, nickte den beiden zu.

„Ich bin Lux.“

„Ich bin Schäffi.“

Und im Duett fügten sie hinzu: „Wir grüßen Sie, Herr Lehmann!“

Es war das erste Mal, dass Shirley Lindsey ihren Chef, Dr. Uwe Lehmann, total verblüfft und sprachlos sah. Er hatte sich überrascht in seinem Sessel zurückgelehnt, starrte auf die beiden vor ihm Sitzenden, blickte hilflos auf seine Mitarbeiterin und biss sich auf die Unterlippe.

Und ihrerseits sehr verwundert, stellte Shirley Lindsey fest, dass Lehmanns Augen feucht wurden.

Endlich sagte er mit etwas brüchiger Stimme: „Das, Kollegin, hatte ich nicht erwartet.“

Lux drehte den Kopf zu seiner Betreuerin – kein Zweifel, mit vorwurfsvollem Blick – „Es ist langweilig“, sagte er.

Lehmann lachte auf.

„Dürfen wir?“, fragte Schäffi.

„Natürlich“, antwortete Shirley.

Mit einem Satz waren beide vom Tisch und an der Tür.

„Halt, halt!“, rief Shirley und stellte flugs die Käfige bereit. „Marsch, rein!“, befahl sie.

„In die alten Kisten“, maulte Schäffi, aber folgsam kroch sie durch die Öffnung.

Lux sprang von der Tür zu Lehmann, legte ihm die Vorderpfoten auf den Oberschenkel und sagte „Tschüss, Herr Doktor Lehmann“, drehte sich um und verschwand ebenfalls im Behälter.

Lehmann schüttelte, noch immer arg verwundert, den Kopf.

Shirley Lindsey rief Susan Remp: „Bitte übergeben Sie die beiden Boris Remikow.“ Dann wandte sie sich Lehmann zu: „Hier ist die Dokumentation.“ Sie öffnete ihre Mappe. Unschwer ließen sich aus ihrem Gesicht Stolz und Freude ablesen. Sie wischte einige Schmutzkrümel vom Tisch und reichte ihm die gebundenen Papiere.

Lehmann winkte ab. „Lassen Sie die Unterlagen einfach hier, ich schaue später rein“, sagte er. „Sie sehen mich überrascht, und ich wiederhole: Das hatte ich nicht erwartet.“ Unernst fügte er hinzu: „Sie Luder – mir das bis heute vorzuenthalten!“

Shirley Lindsey lächelte geschmeichelt und erklärte in sachlichem Ton: „Der Test ist erfolgreich verlaufen. Bislang werden keinerlei Probleme gesehen. Sie konnten sich selber überzeugen: Die beiden Probanden sind gesund und haben sich bislang ausgezeichnet entwickelt. Nach meiner Prognose – eingedenk des weiteren Wachstums des Tierkörpers – könnte ihre geistige Strukturierung die eines zwölf- bis fünfzehnjährigen Menschenkindes erreichen.“

„Fabelhaft!“

„Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Was wird aus ihnen?“

Uwe Lehmann sah sie an, als überlege er und antwortete nicht sogleich. „Das entscheiden wir, wenn wir mehr über sie wissen. Nicht zufrieden?“ Er sah Shirleys Gesichtsausdruck an, dass sie wohl eine konkretere Reaktion erwartet hatte. „Ich könnte mir denken, dass sie bei Akzeptanz durch die Fachwelt und natürlich entsprechenden Fähigkeiten in die menschliche Gesellschaft integriert werden könnten, hm?“

„Bei Akzeptanz …“ Shirley Lindsey war aufgestanden und blickte aus dem Fenster.

„Gehen Sie davon aus, dass man nicht in allen Nationen so scheinheilig argumentiert wie in der Unsrigen. Denken Sie an das Stammzellengesetz. Selber züchten im eigenen Land verbietet man, um Leben zu schützen, wie man behauptet, hiesiges Leben. Die anderen können ihres getrost für uns opfern und es an uns verkaufen. Eine Supermoral! Und die naturgemäß anfallenden überzähligen Embryonen – weg damit. Wohl kein Leben das? Was glauben Sie, was da für ein internationaler Schacher in Gang gerät und welche kriminelle Energie – obendrein zum Schaden einer vernünftigen Forschung. Aber lassen wir das; Sie wissen es ohnehin! Ich könnte mir denken, dass Ihr Lux schon jetzt irgendwo anders auf der Welt die Achtung erführe, die ihm als Wunderwesen gebührt. Denken Sie an die Mythologie: Götter oder wenigstens Halbgötter waren das!“

Shirley Lindsay nickte gedankenversunken. „Jedenfalls danke ich Ihnen. Eine hervorragende Leistung. In einer nicht bornierten Welt nobelpreisverdächtig. Jetzt den Großversuch! Wenn uns der Massennachweis gelingt …“

„Sie wollen also dabei bleiben.“

„Was denken Sie denn! Jetzt erst recht. Ich hoffe, Sie sind darauf vorbereitet. Ausreichend Material ist doch vorhanden …?“

Shirley Lindsey nickte.

„Aber – nach wie vor strengste Vertraulichkeit. Ich kann Ihnen höchstens noch einen Pfleger zuteilen. Wie viele könnten es werden?“

„Maximal siebenundzwanzig.“

„Ich dachte zwar zunächst an über dreißig, aber gut. Ich verlasse mich weiter auf Sie. Eine Zulage weise ich an.“

„Oh, danke!“ Shirley Lindsey fühlte sich einen Augenblick ob ihrer Kleingläubigkeit beschämt. Und, schließlich hat er, der Institutsinhaber, die Hauptverantwortung. ,Nimmt er sie wahr, so wie es den Geschöpfen zukommt?’, nagte erneut Zweifel in ihr.“ Und damit zu ausführlicheren Vorstellungen der anderen Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 2007 veröffentlichte Wolfgang Licht im Tauchaer Verlag sein spannendes Buch „Vera Granford“: Selbstbewusst, ansehnlich, beruflich erfolgreich, verliebt in einen verheirateten Mann und voll unruhiger Sehnsucht nach Geborgenheit im Alltag der DDR. So ist Vera, eine geschiedene Frau in den besten Lebensjahren. Die faszinierende und verlockende Bekanntschaft, die in der Bar eines Interhotels begann, vielfältige Erlebnisse im Kreis befreundeter Familien oder mit ihrem Vorgesetzten, unzweideutige Angebote diverser Männer in der lockeren Atmosphäre eines öffentlichen Tanzlokals oder anderswo – nichts kann ihre Standhaftigkeit und ihr brennendes Verlangen nach einem Leben an der Seite des Geliebten beeinflussen. Doch dann kommt sie selbst zu einem schmerzlichen Entschluss … Hier die ersten beiden Kapitel:

„1. Kapitel

Man schrieb das Jahr neunzehnhundertvierundsiebzig. Die Märzluft hatte die Gehsteige und Fahrbahnen endlich getrocknet. Die Menschen liefen ohne Mäntel über den weiten, windigen Platz, obwohl sie noch froren. Quader. Ihre Kanten strebten im hohen Blau zueinander. Auf der Herfahrt hatte ich Vogelschwärme gesehen. Sie kreisten über plötzlich besonnten braunen Feldern und Wäldern, die schon grün beflaumt waren. Nun glaube ich ihn, den Frühling, hatte ich gedacht und war von Erwartung durchdrungen.

Durch Gäste, die redeten und rauchten, drängte ich mich an die Rezeption. „Bitte sieben vier acht.“ Sie behielt den Hörer am Ohr, sagte: „Tut mir leid, ausgebucht“, drehte sich dabei halb herum, gab mir den Schlüssel. „Danke.“ Meine Schritte klappten auf spiegelndem Schiefer. Ich ging zwischen Ledersesseln durch süßliche Tabakwolken und sah aus den Augenwinkeln dicke Lippen lächeln in braunen Gesichtern. Vor dem Lift verhielten zwei Männer. „Bitte“, mit übertriebener Geste. Im Aufzuge musterten sie mich. Wenn sich unsere Blicke trafen, glitten sie rasch ab, mit leerem Ausdruck. Im vierten Stock verließen sie den Korb. Grüßten murmelnd. Siebenter: Ich ging unhörbar über Teppiche. Ich schloss hinter mir ab und setzte mich aufs Bert. Jetzt fühlte ich mich geborgen, mein Blut strömen, die Hände warm werden. Ich ging ans Fenster, schob den Vorhang zurück und öffnete die Glastür. Neue Magistralen. Das Rathaus. Die glitzernde Elbe. Ich begann zu hüpfen. Dann entkleidete ich mich rasch. Eine Masche zog davon. Ich lachte, knipste Licht im Duschraum, ließ Wasser prasseln und sang. Ich hätte nichts zu wünschen gewusst. Ich war frei für Richard, und ich war jung. Ich im Spiegel: Gute Augenbögen. Die Taille, ein Tal. Ein runder, glatter Nabel. Allerdings, mit dreißig ist man nicht mehr so ganz jung. Aber wozu Schärfe. Haut trügt. Man sollte sich selbst weichzeichnen. Ich tropfte und glänzte, rieb mich trocken, klopfte mir eine Creme ein. Dann legte ich mich nackt aufs Bett. Sein Laken war kühl und glatt.

Es war wie damals, vor sieben Jahren: Ich lief mit Jürgen durch diese Stadt. Sonnenhitze prallte von den Mauern. Wir saßen an Tischen im Schirmschatten. Löffelten Eis portionsweise. Reifen surrten wie Insekten. Wir sahen in das Treiben vor uns. Lächelten. Ich beugte mich zu ihm und strich Schweißtropfen von seiner Stirn. Der breite, flache Ring schimmerte an meinem Finger. Schon lange waren wir herangewachsen. Aber jetzt erst durften wir leben wie Mündige. Zusammenwohnen. Fühlten uns „entsündigt.“ Vielleicht hatten wir deshalb nicht länger gewartet. Ich hielt ihm einen Taschenspiegel vor. Wir lachten über die breite Staubfurche über seinem Auge.

Wir wohnten damals neben dem Rathaus, das wir Big-Ben nannten. Oft blickten wir von seiner Höhe ins Übertägliche. Wir sahen das Organische der Stadt: ihre Narben, noch offenen Wunden, und ihr Erblühen. Ich hatte ihre Verbrennung erlebt und wusste nichts mehr davon. – Ich wollte nicht an Jürgen denken. Ich wollte ihn heraushaben aus allen Bildern, in denen er vorkam. Ich wollte nur die Freude zurück, die Unversehrtheit, das volle Klingen und den reinen Ton jener Tage. Damals gab es die Zeit nur auf dem Kalender. Zählte nach Erreichtem und Festem. War Zahl, uns nicht bewusst als Leben, das endlich ist, für jeden. Vorbei. Jürgen hat mich nicht begreifen können. Ich verteufelte ihn aus Notwehr. Machte ihn leichter, ärmer, als er war. Er hätte mich gehen lassen müssen. So wurde es schlimm. Aber der Schmerz war noch nicht Erinnerung. Er hallte wider als Angst, und Gedanken reizten die Wunde. Ich fror und zog mich an.

[*]Kapitel

Ich hätte mich mit Richard nicht in dieser Stadt treffen sollen, wenigstens nicht gestern schon herreisen, nicht warten müssen. Morgen ist unser heidnischer Tag. So nannte ihn Richard, jenen Tag. an dem wir uns verbanden. Ich blieb unruhig und plötzlich war eine verrückte Hoffnung in mir. Ich machte mir rasch eine Frisur und ging zum Lift.

In der Halle Gedränge. Busse waren angekommen. An Tischen füllten die Angereisten Formulare aus. Eine blonde Mutter zankte ihr rotznäsiges Söhnchen und zog ein Taschentuch, sich verlegen umsehend. Ich zwängte mich durch Leute und Koffer. Vor der Rezeption strengte sich jeder an, gehört zu werden. Obwohl eine schmallippige Hostess gerade den Hörer auflegte und zu mir hersah, zog ich es vor, mich bei der Blonden anzustellen. Ich wollte länger hoffen. „Richard T.?“ Sie sah nach, rasch, sorgfältig. „Leider“, sie lächelte mitfühlend, ich fühlte mich getröstet. Richard war noch nie früher gekommen als ausgemacht. Wie hatte ich’s nur denken können. Und wäre er hier, er hätte mich längst gefunden, dachte ich schließlich.

In den Ledersesseln saßen jetzt andere. Ich ging in das Espresso am Ende der Halle, glitt auf einen Hocker und bestellte Mokka. Nach einer Weile setzte er sich neben mich. Ich hatte ihn schon vom Lift aus gesehen. Er sprach schlecht deutsch. Ich beobachtete, wie seine Lippen Laute formten. Seine Stimme tönte ohne zu dröhnen. Beim Lächeln wölbten sich seine Wangen, dass seine Zähne glänzten, lag wohl am Kontrast. Das Warten hatte mich bedrückt und fast war ich ihm dankbar, dass er offenbar Gefallen an mir fand. Und: Er ließ mich den Abstand bestimmen. Er trank Scotch. Ich hatte auch Lust darauf. Wie in allen Interhotels kursierten auch in diesem zwei Währungen, und Whisky war hier nur für Westgeld zu bekommen. Das in meinem Täschchen müsste reichen, dachte ich.

Ich hatte ihn nach afrikanischer Literatur befragt und er zitierte etwas von Bolambe, den ich kannte. Roger Bolambe war sein Landsmann. „Leopoldville?“, fragte ich. „Brazzaville.“ Dann redeten wir von Afrika, und er lachte, als ich ihm sagte, wie ich mir die Wüste und den Dschungel vorstellte. Ich behielt meinen Whisky lange im Munde, denn mein Geld reichte nicht für weitere Drinks und mehr als zwei Gläser trinkt eine Dame ohnehin nicht, nachmittags, dachte ich. Ich wies auf die Flasche: „Fuselöle“, sagte ich, „machen Zirrhosen.“ Er missverstand mich. „Ah, Collega,“ rief er erfreut. Ich verneinte und er fragte nicht weiter, ich sah seine Muskeln gleiten unter der braunen Haut, als er das Glas fasste. Er war M’-boschi, hatte Medizin studiert. „Nur Arzt sein ist nicht gut bei uns“, sagte er. Wir konnten uns nur schwer verständigen. Französisch, seine zweite Sprache, verstand ich überhaupt nicht. Ich spähte in den Spiegel und sah hinter Kristallgläsern und bunten Flaschen sein dunkles Gesicht – ein Porträt aus Ife – und mein helles Oval. Er roch nach fremdartigen Hölzern und Früchten. Ich war durchdrungen von Fernsucht damals. Die Welt ging weiter hinter meinem Hause, aber mir blieben viele Wege unzugänglich, sogar verboten. Und:

Manches was ich tat, tun musste, war nicht besonders wichtig. Manchmal erschien mir mein Lebenskreis wie eine gegossene Form. In ihren unnachgiebigen Hohlräumen bewegten sich meine Tage, schwapp, wie Wasser in einer Badewanne. Die stereotypen Küchengriffe. Die täglichen Wiederholungen im Institut, in den Versammlungen. Das Auswendige, Absehbare bei Bekannten und Freunden. Ihre vorhersehbaren Äußerungen zu allem und jedem. Ich mag Menschen, die wagen, infragezustellen. Ihn beneidete ich um die Welt, obwohl sie hart war für ihn und sein Land. Er wollte Gynäkologe werden. „Gebären ist noch gefährlich bei uns.“ Er habe an viele Kliniken geschrieben. In D. erst sei er schließlich aufgenommen worden. Er rauchte wieder diesen aromatischen Tabak. Als er ging, wollte er meinen Whisky bezahlen, aber ich ließ es nicht zu. Tschechen kamen herein. Ich drehte mich auf dem Hocker. Sie stellten die Koffer ab. Einer schwang die Arme, erklärte. Dann kam er an die Theke, bewegte die Lippen über der Karte. „Po prve?“ fuhr es mir heraus. Ich sah mich wieder auf der Karlsbrücke, das Gesicht zur Sonne, bummeln mit Jürgen unter den Arkaden, streunen durch Höfe, flüstern in Kirchen. Von D. aus waren wir damals weitergereist, nach Prag. Der Fremde hatte überrascht aufgeblickt und überschüttete mich jetzt mit seiner Sprache. „Das sind die einzigen Wörter, die ich kenne.“ Ich lachte und hob die Schultern. Der Barmann erklärte es ihm auf tschechisch. „Sagen Sie ihm, ich liebe die Moldau“, rief ich. Der Whisky war schon ein wenig im Spiele. „Oh“, er gab mir die Hand. Schmunzelnd ging er zu seinen Leuten zurück.“

Erstmals 1973 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Herr Lucius und sein schwarzer Schwan“ von Waldtraut Lewin: Zwei junge Männer versuchen, eine Freundschaft fortzuführen, die sie einst als Schüler und Lehrer verband. Der eine, Lucius, trägt einen angesehenen römischen Namen, ist Erbe eines stattlichen Vermögens sowie zahlreicher Sklaven und hat eine verführerische Braut aus vornehmem Geschlecht. Der andere, Auletes, ist Sklave aus Alexandria, wurde als „Schwarzer Schwan“ von Lucius Vater sexuell missbraucht, dann weiterverkauft. Er begreift, dass die Zeit am Vorabend des Spartacus-Aufstandes die Utopie der Harmonie zwischen Herr und Knecht zerstört. Flavilla, die kleine Germanin, verhilft ihm zu dieser Erkenntnis. In Lewins Roman „Die Ärztin von Lakros“ erfährt man, ob und wie Auletes und Flavilla aus Lewins Roman „Herr Lucius und sein schwarzer Schwan“ den Sklavenaufstand überstanden haben. Schließlich klärt der Roman „Die stillen Römer“ endgültig über das Schicksal von Flavilla auf. Im folgenden Ausschnitt aus „Herr Lucius und sein schwarzer Schwan“ erleben wir die erste Begegnung zwischen Auletes und Lucius, dem Jüngeren:

„Auletes heißt Flötenspieler, erklärt der Vater, aber Flötespielen gehört zu den wenigen Dingen, die er nicht kann, der neue Sklave. Der Name will schließlich nichts besagen, selbst Tyrannen von Syrakus und Statthalter Bythiniens haben schon Auletes geheißen. Dieser also ist ein Sklave, Kind eines Sklaven, in Sklaverei geboren, das heißt sehr fügsam und sorgfältig gebildet und erzogen.

Zweifellos war er ein unansehnliches Kind, denn wenn seine Herren geahnt hätten, wie er mit Siebzehn, Achtzehn aussehen würde, hätten sie viel Kosten gespart. Nun aber sieht er so aus, wie er aussieht, und kann außerdem noch vielerlei, wie der Vater darlegt (vergnügt dozierend, während er seiner familia die Neuerwerbung vorstellt), zum Beispiel: eine schöne Schrift schreiben, ein reines Griechisch sprechen, die Klassiker interpretieren und sehr gut rechnen. (Was den Preis natürlich in die Höhe getrieben hat. Das Konto bei dem alexandrinischen Geschäftsfreund wurde stark überzogen.) Die Bildung seiner Kinder, sagt Lucius, der Vater, fröhlich, ginge ihm über alles.

Für die Kinder also, für wen sonst, wurde er gekauft. Als Erzieher, erfährt man. Der Kinder sind drei, sie halten sich an den Händen und stehen allein in der Mitte des Raumes (etwas weiter hinten, mit Abstand, folgt dann die familia, die Haussklaven des Herrn Lucius). Der Jüngste braucht noch keine Klassiker und keine Mathematik. Das Mädchen braucht nie Klassiker und Mathematik – es ist schließlich ein Mädchen. Bleibt Lucius, der Sohn des Hauses. Filius herilis heißt es bei so berühmten Häusern wie dem des Lucius. Man wird sogar so angeredet: filius herilis, Erbsohn.

So stehst du denn und siehst ihn an, den eigens für dich Gekauften – er dich freilich nicht; er hat die Augen sittsam niedergeschlagen, außerdem steht er halb abgewandt. Du wirst dies eigenwillige Profil nicht so bald vergessen, die gerade Nase, die hohen Backenknochen, den Schatten der Wimpern, der sich schon mit dem langen Haar mischt, das er trägt. Wenn du dich erinnerst, wird immer dies dunkle Profil zuerst da sein mit seinem Zauber aus Kühle und Fremdartigkeit, der lange Hals auf den schmalen Schultern – ein anderes Wesen als die, die dich umgeben, zu Herzen gehend.

Die familia allerdings ist sich über die Art dieser Neuanschaffung da, dieses Erziehers, der ein halb Dutzend Jahre älter ist als sein Zögling, keinen Moment im Zweifel. Die Sklaven des Hauses sind nicht entzückt. Derart Jungen können zum Fluch werden, sie sind launisch, boshaft, bringen alles durcheinander. Dieser hier scheint von der hochmütigen Sorte, steht da in seinen weißen Schuhen und mit Haaren bis auf die Schultern und geruht nicht, jemanden zu beachten.

Keiner kann sich vorstellen, dass der Gnädige ihn nicht schon auf der Schiffsreise gründlich ausprobiert hat – was in Wahrheit nicht stimmt, denn Lucius der Ältere, ein Kenner, verachtet überstürzte Mahlzeiten, er liebt gut vorbereitete Gerichte, zumal so köstliche wie dies.

„Sieh ihn dir an“, sagt er zu Lucius, seinem Sohn, als hätte der das nicht schon getan wie für ewige Zeiten. „Und jetzt kommt die Überraschung“, meint der Vater, und der Sklave Auletes muss die Lider heben, und seine Augen sind grün wie edle Steine in seinem dunklen Gesicht. „Schwarzer Schwan“ nennt ihn der Vater, und Lucius wird sich nichts dabei denken und es ebenfalls sagen, sodass es fast zu einer Art Rufnamen wird, den ihm Herr und Erbsohn allein verleihen dürfen: Schwarzer Schwan.

Schwarze Schwäne fliegen einem nicht alle Tage ins Haus, und der Herr wird nicht viel fragen, wenn es darum geht, seinen Besitz zu beanspruchen – aber das kommt alles später. Für Lucius, den Knaben, ist dies fremde Wesen sein Erzieher, zu Herzen gehend und vom ersten Lidschlag an geliebt.“

In „Schlappohr, ein irrer Vogel und andere Tiergeschichten“ sind zwei Bücher von Barbara Kühl enthalten, die beide im Kinderbuchverlag Berlin veröffentlicht wurden. Erstmals 1990 war in der beliebten, für Kinder ab acht Jahren konzipierten Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ als Band 195 „Schlappohr und andere Erzählungen“ erschienen, erstmals 1993 „Ein irrer Vogel“: Wie ergeht es einem Jungen, der feststellen muss, dass er auf einmal eine Krähe geworden ist? Und wie lebt es sich, so als Krähe, die eigentlich ein Junge ist? Gibt es doch noch eine Möglichkeit, diese Verwandlung wieder rückgängig zu machen? Es ist eine irre Geschichte, die Barbara Kühl in „Ein irrer Vogel“ erzählt. Und eine zum Nachdenken über Menschen und Tiere. Aber auch die Geschichten „Flummi“ und von „Schlappohr“, dem geschenkten Schäferhund, über Glücksvögel im Pech, über dreizehn gerettete Krebse und Kunstreiten auf dem LPG-Schafbock sowie über eine schwarze Spinne sind lesens- und vorlesenswert. Hier ein Ausschnitt aus dem 5. Kapitel der Erzählung „Ein irrer Vogel“:

„Wohin ich will, weiß ich nicht, Und auch nicht, was ich machen soll. Was machen Krähen den ganzen Tag? Fliegen, fressen, rumlärmen über der Stadt — und was noch? Ach ja, Nester bauen, sich paaren. Warum muss ich jetzt gerade an Trixi denken? Wo mag sie sein? Auf dem Bahnhof? Oder schon unterwegs zur Insel im Schweriner See? Wenn die wüsste, was mit mir passiert ist! Ob sie mich bedauern oder lieben würde? Mich, als Krähe? Oder wenigstens mal streicheln? Ph, kein Mensch streichelt Krähen! Und Trixi, die wird Willi streicheln, diesen oberblöden Hamster.

„Mistvieh!“, krächze ich und erschrecke vor meiner eigenen Stimme. Sie ist wieder da, samt Sprache, und ich probiere sie gleich noch einmal: „Mistvieh!“

„Frechheit!“, schnauzt eine dickliche Frau, drückt einen Zwergpinscher an ihren gewaltigen Busen und guckt sich verbiestert um, ehe sie im Hundesalon verschwindet.

Wenn nur dieser Durst nicht wäre! Cola! denke ich. Im Kühlschrank steht jede Menge. Der Kühlschrank aber steht in unserer Küche, und ich steh vorm Haus und kann nicht rein, weil ich eine Krähe bin. Prüfend peile ich die Straße rauf und runter. Nirgends eine lumpige Pfütze. Springbrunnen! klickt es da plötzlich in meinem Kopf. Drüben auf dem Spielplatz ist einer.

Fliegen müsste man können, denke ich zum zweiten Mal an diesem Tag, breite die Flügel aus, hole Schwung, und platsch — kippe ich vom Bordstein. Fast hätte mich ein Auto erwischt. Warum kann ich nicht fliegen, wenn ich schon eine Krähe sein muss? Viel taugt deine Null-Serie nicht, Professor Vater! Von Flug-Gen keine Spur.

Mit einem Hüpfer rette ich mich zurück auf den Gehweg und begreife, dass ich nur an der Ampel die Fahrbahn überqueren kann, Schrittchen für Schrittchen. Und nur bei Grün. Schließlich bin ich kein amerikanischer Rennkuckuck, der am Rand der Highways auf Autos lauert, sie rankommen lässt und haarscharf vor ihnen über den Asphalt prescht. Ich warte auf Grün, stakse los. Wie breit plötzlich die Straße ist! Und wie kurz meine Krähenfüße. Da! Gelb. Aufheulende Motoren neben mir. Gleich werden mich die Reifen erwischen. Da umschließen mich zwei Hände, heben mich auf und setzen mich auf die niedrige Spielplatzmauer.

„Danke“, sage ich.

„Bitte“, sagt der Mann, geht ein paar Schritte, bleibt stehen, dreht sich um. „Na, so was“, sagt er, „na, so was.“ Einen Augenblick betrachtet er mich verwundert, dann geht er kopfschüttelnd davon.

Ich Trottel! Warum lass ich ihn laufen? Vielleicht war das die Chance, jemandem von meiner Verwandlung zu erzählen? Nein, es war gut, den Schnabel zu halten. Erwachsene glauben nicht an Wunder, und was sie nicht glauben, halten sie für Lüge.

Früher bin ich manchmal auf dem Spielplatzmäuerchen herumgeklettert und ohne Angst wieder hinuntergesprungen. Aber da war ich auch keine flugunfähige Krähe.

An der Rutsche spielen ein paar Kinder. Zwei Frauen unterhalten sich und stricken. Sie kehren mir den Rücken zu. Ob die sich trauen, eine Krähe anzufassen?

Da seh ich wenige Meter weiter ein Mädchen auf der Mauer sitzen. Es leckt Eis. Eis! Ich überlege nicht lange, stakse los, stubse die Kleine mit dem Schnabel und frage superhöflich: „He, du! Lässt du mich mal lecken?“

Na, da geht vielleicht was los! Wie eine Sirene heult sie auf, rutscht von der Mauer, fällt hin samt Eis und schreit: „Mama, Mama, die Krähe hat mich gebissen!“

Ehe ich mich verteidigen kann, ist die Mama ran, macht hysterisch „ksch-ksch“, schubst mich mit dem Schirm. Zack! plumpse ich rückwärts in die Büsche.

„Widerlich!“, höre ich sie zetern. „So was müsste man vergiften!“

Vergiften! Hat diese blonde Mama wirklich „vergiften“ gesagt? Ich ducke mich, verspüre zum ersten Mal Angst. Ob Krähen unter Naturschutz stehen? Ich wäre sehr dafür. Sonst könnte ja jeder … Plötzlich wird mir klar: Ich bin vogelfrei! Ja, vogelfrei. Mit mir kann jeder machen, was er will. Ganz still liege ich unterm Gebüsch, ganz still. Bis zum Hals rauf klopft mein Herz, und meine Krähenfüße zittern. Aufwachen! Ich will endlich aufwachen aus diesem verrückten, gefährlichen Traum.

Es ist kein Traum. Ich höre die Autos über den Asphalt sausen, höre sie bremsen, Gas geben, anfahren, höre Schritte auf den Gehwegplatten und Stimmen auf dem Spielplatz. Ich aber liege im Gebüsch und hechle mit geöffnetem Schnabel. Durst! Ganz nah plätschert der Springbrunnen. Vorsichtig schiele ich hinüber, stakse los, hopse auf den niedrigen Brunnenrand. Und ehe ich überhaupt weiß, ob ich schwimmen kann, lasse ich mich fallen, tauche unter und wieder auf, spüre das Wasser, trinke, vergesse die Angst, tobe und spritze im Becken herum. Das Wasser darin färbt sich aschebraun.“

Erstmals 1974 veröffentlichte Dietmar Beetz beim Verlag Neues Leben Berlin „Blinder Passagier für Bombay“: Pitt und Latte, beide Schiffslehrlinge, also das, was man heute wohl „Matrosen-Azubi“ nennt, sind zum ersten Mal auf großer Fahrt. In Port Sudan, unterwegs nach Indien, kommen zwei Passagiere an Bord: ein zwielichtiger Händler und Krishna, ein Bürschchen, jünger noch als Latte und Pitt, denen er sich anvertraut und die ihm zu Freunden werden. Er will, erfahren sie, nach Karachi, zu Kamala, seiner Tante, der einzigen Verwandten, an die er sich wenden kann, seit sein Vater verstorben ist. Wird er sie aufspüren in der großen Stadt, einer der größten auf dem Subkontinent, der in verfeindete Staaten gespalten ist? Und wenn nicht, was dann, wie weiter? Und Latte und Pitt, was steht ihnen bevor? Dietmar Beetz, 1965 als Schiffsarzt im Indien-Liniendienst, hat ein Schicksal aufgegriffen, von dem er an Bord von MS „Berlin“ erfuhr, und so davon erzählt, wie es sich damals durchaus hätte ereignen können. Hier der Beginn des 3. Kapitels, dessen Überschrift lautet „Lang ersehnter Landgang“:

„Der Tag war ja schon qualvoll gewesen, der Abend aber wurde für Pitt zur Folter. Na, und dann erst die Nacht!

Da waren sie nun wochenlang gefahren, gestampft und gerollt durch den aufgewühlten Ozean und geglitten, scheinbar schwebend, über eine kaum bewegte See, oft in Sichtweite der Küste, des afrikanischen Kontinents, und manchmal ziemlich dicht am Land vorbei. Ja, immer vorbei am Land und weiter, südwärts zunächst und dann, hinterm Kap, nach Nordosten, nach Nordnordost und schließlich sogar in Richtung Nordwesten, zweimal über die Linie, den Äquator, hinweg.

Beim ersten Mal übrigens mit allerhand Tamtam, mit dramatischem, wenn auch längst nicht so drastischem Zeremoniell wie in einschlägigen Reisebeschreibungen: mit einem vollbärtigen, gekrönten, dreizackdekorierten Neptun alias Ulli, das schon, und sogar mit einem Cocktail aus Primasprit, Rizinusöl, Pfeffer, Zimt und sehr viel Essigwasser; mit diversen, vom Kapitän gebieterisch gemilderten Mut- und Bewährungsproben, beispielsweise dem Tauchen, Robben, Kriechen durch einen gut drei Meter langen, wassergefüllten Schlauch aus zusammengenähter Persenning. Und, versteht sich, mit einer Urkunde zum Schluss, dem traditionellen Taufschein, bei Pitt ausgestellt auf den braven, geradezu beleidigenden Namen „Hering“.

Ja, wenn es „Catfish“ gewesen war wie bei Latte… Aber, schließlich, der Doc hieß ja auch bloß „Heilbutt“.

Fern, fast vergessen war dieser Tag mit der vergleichsweise milden Sonne haargenau im Zenit, von Pitt verstaut im Gedächtnis, im hintersten Winkel, wie die Erinnerung an den Sturm kurz danach, in Höhe von Luanda, die Erinnerung an sein wenig heldenhaftes Gebaren dabei. Dort schlummerten auch die Bilder vom Kap und von Bab el Mandeb, dem „Tor der Tränen“, und manch anderer Schatten dieser langen und letztlich langweiligen Fahrt.

Was war schon ein Blick auf die gebirgige Küste, auf die grünen Hügel und rostbraunen Felsen, was selbst der Anblick von Kapstadt samt Tafelberg, über die Reling weg und bestenfalls durch ein Fernglas, verglichen mit diesem Panorama hier? Was das alles im Vergleich zu dem Bewusstsein, endlich in Port Sudan zu sein? Jetzt. Ganz persönlich – Pitt aus Meißen im Sudan, so nah an Afrika wie nie zuvor!

Nah auf Spuckweite und doch – es war zum Heulen -, und doch noch weit von einem Landgang entfernt. Nach wie vor eingespannt in das Joch eines wachhabenden Matrosen, eines Lehrlings dazu, unterstellt dem Kommando des chief mate, seinen flinken Blicken ausgeliefert.

„Vorsicht, Schmidt! Mensch, Sie schlafen wohl? Kommen Sie gleich mal hierher!“

Und Latte, dieser Rhönochse, musste einem auch noch zuraunen: „Reiß dich ein bisschen zusammen! Es dauert ja nicht mehr lang.“

Nicht mehr lang… Hatte der vielleicht ein Zeitgefühl!

Die Leinen waren fest, der Anker längst auf Grund, das Fallreep ausgefahren. Und noch immer durften sie nicht wegtreten. Wie lang eigentlich sollten sie hier warten, rumstehn in dieser Sauna oder ziemlich überflüssige Handgriffe tun? Etwa bis die vom Zoll sich ausgemärt hatten? Die und die anderen Beamten. Schienen auch nicht viel flotter zu sein als in Meißen, beispielsweise.

Dann – endlich! – kamen sie aus der Offiziersmesse: vorneweg der Lotse, dahinter die Männer vom Zoll, und der da in Begleitung des Doc war sicher der Hafenarzt. Allesamt hatten sie es nicht allzu eilig, und völlig nüchtern schienen sie auch nicht mehr zu sein. Immerhin aber gingen sie von Bord.

Kaum waren sie verschwunden, kam über das Fallreep schnaufend ein beleibter Herr, Monsieur, Mister oder womöglich gar Lord.

Der Handelsvertreter! schoss es Pitt durch den Kopf, und wie alle in der näheren Umgebung trat er beiseite, mit den andern ein Spalier bildend. Ihre Blicke folgten dem bemerkenswerten Gast, mehr noch seinem Gehilfen und am meisten der bauchigen Tasche, die der Gehilfe an einem Riemen über der Schulter trug.

Diese Tasche… Wie Pitt das nur vergessen konnte? Sicher war die Hitze schuld daran. Und seine Aufregung natürlich. Trotzdem: Den ganzen Tag über keinen Augenblick lang, nicht mit einem einzigen Gedanken an die Post zu denken, die Post, die todsicher mit in dieser Tasche war!

Mensch, Männer und Matrosen, Leute, Post! Nach wochenlanger Fahrt – und selten, viel zu selten ein kümmerliches Telegramm – endlich wieder Briefe für die Mannschaft der „Potsdam“, richtige Briefe von daheim!

Von nun an empfand Pitt die Minuten, die sie noch warten mussten, als Tortur. Einfach gemein vom chief mate, die Decksgang zusammenzurufen „auf ein Wort“; pure Niedertracht, jetzt, in dieser Situation, noch einmal an die Verhaltensregeln während der Hafenliegezeit zu erinnern. Und zu verkünden, als sei es ein Weihnachtsgeschenk, morgen Vormittag gäbe es Landgang.

Morgen also erst – na ja… Aber Post gibt es jetzt, verdammt noch mal! Zur Maschinengang müsste man gehören, da hätte man sein Bündel Briefe vielleicht schon in der Hand. Und ganz bestimmt nicht so einen Schulmeister als Boss.

Tatsächlich drängten sich vor der Kammer vom Purser, dem Verwaltungsoffizier, bereits die Ingenieure und ihre Assistenten – alle verschwitzt und einige ölverschmiert. Platz da! dachte Pitt, und das Gedränge vor dem Schott, das Stoßen und Anrempeln bekamen erst den richtigen Schwung. Die Schwüle in dem Gang zudem war beinah unerträglich.

„Stellt euch, verdammt noch mal, in einer Reihe auf; sonst mach ich dicht!“, schrie der Purser, der sich hinter einem Klappbrett, einer Art provisorischem Schalter, verschanzt hatte. Und er verkündete, wahrscheinlich zum wiederholten Mal: „Geld gibt’s erst morgen früh!“

Dieser Affe! Tat sich wer weiß wie wichtig mit den paar Devisen, die er einem auszahlen musste. So ein Faultier! Dem war doch schon zuviel, das bisschen Post auszugeben.

Endlich stand Pitt vorn dran. Er rief seinen Namen, lauter als erforderlich, rief ihn gleich ein zweites Mal. „Ja doch, Mensch! Ich such ja schon.“ Und wie der mit seinen Wurstfingern suchte! Ein Wunder, dass er nicht einschlief dabei. „Weiter nichts?“

„Siehst du doch. Na los! Halt den Verkehr nicht auf!“ Und schon hatten die Nachdrängenden Pitt beiseite geschoben.“

Wir Leser aber lassen uns nichts beiseite schieben. Schließlich wollen wir wissen, wie es weiter geht mit Pitt und Latte und dem geheimnisvollen „Blinden Passagier für Bombay“, und dem Jungen, der in eine Krähe verwandelt worden war, mit Auletes, dem Sklaven, und Lucius, dem angesehenen römischen Herrn, und mit Vera Granford und ihrer Liebe und nicht zuletzt mit dem gewagten Klon-Experiment, von dem Alexander Kröger in seinem Roman „Chimären“ schreibt. Viel Spaß beim Lesen und beim Nachdenken über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der in diesem Newsletter vorgestellten literarischen Versuchsanordnungen und bis demnächst. Und natürlich einen schönen Herbst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde im Oktober 1994 gegründet, kann somit in diesem Monat ihr 25-jähriges Verlagsjubiläum feiern, gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1.000 Titel (Stand Oktober 2019).

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